taz.de -- Bürger und Wissenschaften: Forschung aus dem Hinterhof
Immer mehr Laien beteiligen sich an Forschungsprojekten. Sind sie Vorreiter einer neuen Form von Wissenschaft oder billige Hilfskräfte?
Amateuren muss man genau erklären, was sie zu tun haben. Deswegen haben die Biologen vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung im brandenburgischen Müncheberg eine Anleitung geschrieben, wie man richtig Mücken fängt. Für den Mückenatlas, mit dem die Wissenschaftler die Verbreitung verschiedener Stechmückenarten kartographieren, haben bisher 5200 Freiwillige 20.000 Briefe und Pakete mit toten Insekten eingeschickt.
Und dabei kann man einiges falsch machen. „Zerquetschte oder platt gehauene Exemplare sind unbrauchbar, da sie nicht mehr identifizierbar sind“, schreiben die Mückenforscher in ihrer Anleitung auf [1][mueckenatlas.de]. „Daher empfehlen sich für den Fang und Transport der Tiere kleine Gefäße aus Glas, Kunststoff etc., wie sie auf der nachstehenden Abbildung zu sehen sind.“ Für das Bild haben die Forscher Streichholzschachteln und Filmdosen ordentlich nebeneinandergestellt.
„Setzt sich eine Mücke irgendwo ab, z.B. an der Wand oder auf Ihrem Arm, stülpen Sie das Gefäß einfach über sie“. Mücke gefangen, Job erledigt? Denken Sie. „Der nächste Schritt ist das Abtöten der gefangenen Mücken. Dazu platzieren Sie das Gefäß mit den Mücken im Gefrierfach und lassen es dort bis zum nächsten Tag.“ Anschließend noch ein Formular herunterladen und – wichtig! - ausfüllen. Dann an die Eberswalder Straße 84 senden. „Die Wissenschaft wird es Ihnen danken.“
Immer häufiger bitten Wissenschaftler für zeitlich aufwendige Vorhaben wie den Mückenatlas Laien um Hilfe. Für das Projekt [2][„Verlust der Nacht“] installieren Bürger eine App auf ihrem Smartphone, mit der sie die Helligkeit des Nachthimmels messen. Für Berliner Forscher sollen sie [3][Wildschweine in der Stadt zählen]. Initiativen wie diese werden unter einen Begriff gefasst, der in den letzten Monaten besondere Konjunktur hat: Citizen Science – Bürgerwissenschaft. Forschung ohne Diplom und Bezahlung.
Aber ist es wirklich Bürgerwissenschaft, wenn Laien als Hilfskräfte für Projekte benutzt werden, die Profis konzipieren und bestimmen? In der Titelgeschichte der [4][taz.am wochenende vom 30./31 August] geht sonntaz-Autorin Maria Rossbauer der Frage nach, was die Citizen Science Bewegung für die Zukunft der Wissenschaft bedeutet. Dafür reist sie zu Menschen, die sich nicht nur an von Profis ausgeschriebenen Projekten beteiligen, sondern selbst Forschungen anstoßen. Wie die Rentnerin Irmgard Sonneborn, die 23.000 Pflanzen und Pilze gesammelt hat und damit unter anderem den Klimawandel in ihrer Region beobachtet. Und die ehemalige Lehrerin Angelika Klucken, die zu den 20 kundigsten Deutschen im Bereich der Erforschung der seltenen Nervenkrankheit NBIA gehört.
Praxisnah und interdisziplinär
Klucken und ihr Mann erfuhren vor 13 Jahren, dass ihr damals elfjähriger Sohn NBIA hat. Da in Deutschland nur etwa 50 Menschen unter dieser Krankheit leiden, gibt es kaum erprobte Medikamente und Therapien, weswegen der Arzt der Familie wenig Hoffnung machte.
„Dass etwas völlig aussichtslos sein soll, das höre ich gar nicht gerne“, sagt Angelika Klucken. Die Germanistin vertiefte sich in Fachliteratur, gründete einen Verein, vernetzte sich mit Forschern auf der ganzen Welt. Schließlich schob sie ein Forschungsprojekt mit Wissenschaftlern aus acht Ländern an, das die EU mit über fünf Millionen Euro fördert.
Peter Finke möchte, dass Menschen wie Angelika Klucken und die Pflanzenexpertin Irmgard Sonneborn von der Profiwissenschaft endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Als Wissenschaftstheoretiker war er selbst lange Zeit Teil des universitären Betriebs. Er gab seine Professorenstelle jedoch 2006 aus Protest gegen die europaweite Vereinheitlichung der Studiengänge vorzeitig auf. Seitdem widmet er sich den Bürgerwissenschaften. In diesem Jahr erschien sein Buch: „Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien.“
Finke kritisiert, dass in vielen Citizen-Science-Projekten von Universitäten, wie sie etwa auf der Seite [5][buergerschaffenwissen.de] aufgelistet werden, keine wirkliche Beteiligung auf Augenhöhe stattfinde. „Die Bürgerwissenschaftler werden wie wissenschaftliche Instrumente behandelt, als Datensammler“, sagt Finke in der taz.am wochenende. Er sieht jeden als Bürgerwissenschaftler, der außerhalb seines Berufes etwas herausfinden will und dafür kein Geld bekommt. Abseits der Universitäten sei es einfacher möglich, ohne Publikationsdruck und Einfluss von Geldgebern frei zu forschen. Da für die Laien die Fakultätsgrenzen keine Rolle spielen, sei ihre Forschung oftmals praxisnäher und interdisziplinärer.
Andererseits stehen Citizen Scientists ohne Gehalt unter anderen Zwängen: denen ihres begrenzten Privatbudgets, das bestimmte aufwendige Forschungen unmöglich macht. Können sie dann überhaupt eine Konkurrenz für die Universitäten werden? Und was bedeutet das für die Forderung nach „Forschung auf Augenhöhe“ der Bürgerwissenschaftler?
Was meinen Sie: Sollte sich die Wissenschaft gegenüber Citizen Science öffnen? Oder führt das dazu, dass strenge Gütekriterien an Universitäten für ein paar Hobbyforscher aufgeweicht werden? Aber können Profiforscher angesichts von Experten ohne Abschluss wie Angelika Klucken und Irmgard Sonneborn einfach so weitermachen wie bisher?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Exzellenzinitiative aus dem Plattenbau“ lesen Sie in der taz.am wochendende vom 30./31. August.
29 Aug 2014
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