taz.de -- Sexuelle Gewalt in Deutschland: Unser täglich Missbrauch

Missbrauch sei nach wie vor ein Problem, warnt der Beauftragte der Bundesregierung. Betroffene kritisieren die fehlende Aufklärungbereitschaft der Kirche.
Bild: Nicht nur in Institutionen können Kinder Opfer sexueller Gewalt werden. Auch häuslicher Missbrauch ist ein Problem.

BERLIN taz | Fünf Jahre nach Bekanntwerden von [1][Missbrauchsfällen am Berliner Canisius-Kolleg] zogen Experten, Institutionenvertreter und Betroffene am Montag eine kritische Bilanz der Aufarbeitung in Deutschland. Der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, würdigte gestern in der Bundespressekonferenz den Mut der Betroffenen aus dem Berliner Canisius-Kolleg, denen es 2010 erstmals gelang, Gehör in der Öffentlichkeit zu finden.

Die Enthüllungen über vielfachen Missbrauch an der Jesuitenschule brachten das Thema schlagartig in die Öffentlichkeit. Weitere Skandale folgten: Kloster Ettal, Odenwaldschule, Kinderheime. Inzwischen, so Rörig, sei viel passiert: Die Sensibilität für das Thema sei in vielen Institutionen gewachsen, Verjährungsfristen wurden verlängert, das Strafrecht wurde verschärft.

Trotzdem stehe man erst am Anfang: Viele tausend Mädchen und Jungen seien noch heute schutzlos sexueller Gewalt ausgesetzt. Die Finanzierung von Beratungsstellen und Therapieplätzen sei unzureichend, nur wenige Einrichtungen verfügten über Schutzkonzepte. „Missbrauch bleibt weiterhin ein Skandal in Deutschland“, so der unabhängige Beauftragte.

Man hätte es auch schon vor 2010 wissen können, entgegnete die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, Sprecherin der „Konzeptgruppe Aufarbeitung“: Schon früh hätten Frauengruppen auf die Problematik aufmerksam gemacht. Rörig räumte ein, dass sexueller Kindesmissbrauch erst dann skandalisiert wurde, als er männliche Opfer in Institutionen betraf – die Gesellschaft müsse endlich auch das Leid von in der Familie missbrauchten Kindern wahrnehmen.

Keine Bereitschaft der Bischöfe

Pater Klaus Mertes, ehemaliger Leiter des Canisius-Kollegs, der [2][maßgeblich zur Aufklärung beigetragen hatte], erneuerte seine Kritik an der Kirche: Noch immer dauerten die internen Aufarbeitungsprozesse quälend lang und seien völlig intransparent. Noch immer habe, auch in anderen Institutionen, der Schutz der Täter Vorrang. Bei Aufklärungswilligen und Betroffenen stelle sich langsam ein „Entmutigungseffekt“ ein.

Etwa bei Matthias Katsch, [3][ehemals Schüler des Canisius-Kollegs]: Seine Akten lägen seit 1991 im Vatikan – sämtliche Bitten seinerseits hätten die Kirchenverantwortlichen ins Leere laufen lassen. Solange Bischöfe nicht bereit seien, sich mit Betroffenen an einen Tisch zu setzen, könne man von einer Aufarbeitung kaum sprechen.

Anselm Kohn, betroffen von Missbrauch durch einen evangelischen Pastor, kritisierte die „lächerlichen sogenannten Anerkennungszahlungen“ von 2.000 bis 5.000 Euro, die man ihm und anderen nur widerwillig zugestehe. Die Weigerung, Verantwortlichkeit zu zeigen, komme einem zweiten Verbrechen an den Opfern gleich, sagte er und forderte: „Entschädigung muss die Kirche schmerzen!“

Auch Rörig betonte, dass die Frage der Entschädigung immer noch unbeantwortet sei. Hier müsse der Staat eingreifen, man dürfe es nicht den Institutionen überlassen, nach Gutdünken zu entscheiden. Alle Anwesenden hofften auf die Einrichtung einer aus verschiedenen Fachexperten zusammengesetzten Aufarbeitungskommission, die den Bundestag beraten soll. Am Freitag wird der Bundestag über die Einsetzung einer solchen Kommission entscheiden.

27 Jan 2015

LINKS

[1] /!47519/
[2] /!47589/
[3] /!92156/

AUTOREN

Nina Apin

TAGS

Entschädigung
Kirche
Kindesmissbrauch
Canisius-Kolleg
sexueller Missbrauch
Familie
Lesestück Interview
Oxford
Kindesmissbrauch
Pädophilie
Odenwaldschule
Missbrauch
Familie

ARTIKEL ZUM THEMA

Psychologin über sexuellen Missbrauch: „Die Familie ist unantastbar“

Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch wird oft mit Überforderung reagiert, sagt die Psychologin Katrin Schwedes. Auch Lehrer müssten besser geschult werden.

Jesuit über Homosexualität und Kirche: „So redet man nicht über Priester!“

Pater Klaus Mertes fordert alle in der Kirche zum Kampf für Rechte Homosexueller auf. Und erklärt, warum es sich lohnt, trotz aller Homophobie katholisch zu bleiben.

Sexueller Missbrauch in Großbritannien: „Erschreckende Kultur des Leugnens“

Über Jahre wurden Hunderte Mädchen vergewaltigt, verprügelt und sogar gefoltert. Jetzt fordert Premier Cameron härtere Strafen.

Kindeswohl in Gefahr: Behörde behindert Ermittlungen

Bremer Jugendamt soll die Recherchen der Staatsanwaltschaft zu einem Verdacht auf Kindesmissbrauch behindert haben

Fünf Jahre Missbrauchsskandal: Noch lange kein Schlussstrich

Die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg wurden vor fünf Jahren bekannt. Was folgte, war eine Erschütterung, die nicht nur die Kirche trifft.

Kommentar Aufarbeitung von Missbrauch: Durchwachsene Bilanz

Den Missbrauchsopfern wird es weiterhin schwergemacht, Forderungen zu stellen. Die Aufklärung muss von außerhalb der Institutionen betrieben werden.

Leiter des Canisius-Kolleg über Missbrauch: „Nicht mehr allein mit Kindern“

Was ist aus der Debatte über sexuelle Gewalt an Kindern geworden? Vor vier Jahren wurde Missbrauch am Canisius-Kolleg bekannt. Jetzt gibt es dort Frühwarnsysteme.

Debatte Sexueller Missbrauch: Du Opfer!

Viel wurde im Sommer über sexuelle Gewalt an Kindern debattiert – fast folgenlos. Die Stigmatisierung der Opfer ist geblieben und damit das Schweigen.

Canisius-Pater bekommt Bürgerpreis: „Nicht die ganze Wahrheit“

Pater Mertes bekommt von SPD-Chef Gabriel den Heinemann-Preis für besonderen Bürgermut. Ein anonymer ehemaliger Canisius-Schüler über den Mut der anderen.

Betroffener vom Canisius-Kolleg erzählt: Leben wie hinter Glas

Es dauerte fast dreißig Jahre, bis er sich seiner Vergangenheit stellen konnte. Einer der Aufklärer der sexuellen Gewalt am Canisius-Kolleg erzählt seine Geschichte.

Sexueller Missbrauch am "Canisius Kolleg": Übergriffe an der Eliteschule

Im Berliner "Canisius Kolleg" der Jesuiten wurden bis 1985 mindestens sieben Jungen sexuell missbraucht. Der Orden tut sich mit der Aufarbeitung schwer.