taz.de -- Leiter des Canisius-Kolleg über Missbrauch: „Nicht mehr allein mit Kindern“
Was ist aus der Debatte über sexuelle Gewalt an Kindern geworden? Vor vier Jahren wurde Missbrauch am Canisius-Kolleg bekannt. Jetzt gibt es dort Frühwarnsysteme.
taz: Pater Zimmermann, gerade hat das Kirchengericht des Erzbistums Berlin einen heute 73-Jährigen wegen sexueller Gewalt an Kindern an Ihrer Schule, dem Canisius-Kolleg, verurteilt – zu lebenslangem Ausschluss vom Priesteramt und 4.000 Euro Strafe, die er dem Missbrauchsfonds spenden soll. Das Urteil wird den Mann kaum treffen.
Tobias Zimmermann: Inwieweit der Mann persönlich davon betroffen ist, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne ihn nicht. Das Urteil zeigt aber, dass es für ein solches Vergehen eine Strafe gibt.
Eine sehr geringe Strafe für jemanden im Ruhestand.
Die Taten werden als so gravierend eingeschätzt, dass der Verurteilte das Priesteramt nie mehr ausüben darf. Das heißt, dass jemand nicht mehr für vertrauens- und glaubwürdig gehalten wird, und nie mehr das Wort Gottes verkündigen darf. Aus meiner Sicht ist das eine der härtesten Strafen überhaupt für einen Menschen, der für sein Leben die Berufung hatte, Priester zu sein.
Matthias Katsch, Missbrauchs-Opfer am Canisius-Kolleg und Leiter einer Opfergruppe, bezeichnet das Urteil als mild. Empfinden Sie es als angemessen?
Das kann ich sehr gut verstehen. Für das massive Leid, das durch den Missbrauch ausgelöst worden ist, ist es zu gering. Aber es ist immerhin mehr als nichts.
Erst jetzt kam heraus, dass Papst Benedikt in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit rund 400 Priester wegen Missbrauchsvorwürfen entlassen hat. Ist das die Art und Weise, wie die katholische Kirche das Thema aufarbeitet – intransparent und mit Strafen, die den Opfern kaum zu vermitteln sind?
Beim Missbrauch geht es nicht nur um den Täter allein, sondern um ein in diesem Punkt gesamtes krankes System. Insofern stehen wir bei der Aufarbeitung immer noch am Anfang.
Es sind aber schon vier Jahre vergangen, seit Ihr Vorgänger, Pater Mertes, die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg öffentlich gemacht hat.
Kirchliche Verfahren sind oft alt und deshalb nicht sonderlich transparent. Andererseits gibt es viele Opfer, die nicht wollen, dass ihre Fälle bekannt werden. Dann kann man Öffentlichkeit schlicht nicht herstellen.
Ihre Schule ist Teil des kranken Systems.
Hier wurde vor dreißig Jahren aktiv weggeschaut und aktiv nichts getan.
Was tun Sie heute dagegen?
Das Canisius-Kolleg heute ist ein anderes als es vor 30 Jahren war, mit einer anderen Schulkultur, mit anderen Lehrkräften. Das sehen selbst Opfer von damals so.
Gab es in den vergangenen Jahren neue Missbrauchsfälle?
Nein.
Haben Sie trotzdem ein Frühwarnsystem eingeführt?
Ja, wir haben ein Curriculum für Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler entwickelt. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erarbeiten wir einen Verhaltenskodex. Dazu gehört unter anderem, dass kein Erwachsener einfach so allein sein kann mit Kindern und Jugendlichen. Der Schulseelsorger, mit dem ein Kind auch mal ein Gespräch unter vier Augen führen will, tut das zum Beispiel in einem einsehbaren Raum. Für die Schülerinnen und Schüler haben wir gemeinsam mit externen Fachleuten Präventionsstrategien entwickelt.
Wie sehen die aus?
Beispielsweise kommt die Beratungsstelle Kind im Zentrum hierher zu uns in die 5. Klassen. In der 9. Klasse gehen die Mädchen zu Wildwasser, einem Verein für missbrauchte Mädchen und Frauen. Die Jungen gehen zu Tauwetter, dem männlichen Pendant. Auch über den Umgang mit digitalen Medien wird umfassend informiert. Die Kinder müssen aber nicht nur wissen, wohin sie sich wenden können. Sondern sie müssen in erster Linie sprachfähig gemacht werden. Darin liegt unsere große Aufgabe.
Und das erreichen Info-Veranstaltungen einmal im Schuljahr?
Selbstbewusste, sprachfähige Menschen zu erziehen, die für die eigenen Grenzen ebenso einzustehen gelernt haben wie für die der anderen, ist Ziel unseres ganzen Schulprogramms auf dem Feld „soziales Lernen“. Darunter fallen auch Themen wie Mobbing. Zu unserer Präventionsarbeit gehören aber ebenso Handlungsleitfäden sowie unsere Missbrauchsbeauftragte, die wir seit vielen Jahren haben.
Warum wurde die Missbrauchsbeauftragte nicht schon vor 2010 tätig?
Sie kann nur das öffentlich machen, was ihr mitgeteilt wird. In der medialen Aufklärung der Missbrauchsfälle ab 2010 spielte sie eine wichtige Rolle, die lief nämlich vor allem über sie.
23 Jan 2014
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Wer für die katholische Kirche arbeitet, darf sich nicht scheiden lassen. Einziger Ausweg: das Kirchengericht. Ein Einblick in geheime Prozesse.
Fast 40 Jahre lang stand seine Wohnungstür in Berlin-Kreuzberg jedem offen. Der Jesuit Christian Herwartz wird jetzt etwas Neues anfangen.
Missbrauch sei nach wie vor ein Problem, warnt der Beauftragte der Bundesregierung. Betroffene kritisieren die fehlende Aufklärungbereitschaft der Kirche.
Die Kirche sei sich der schlimmen Folgen des Missbrauchs von Kindern durch Priester bewusst, sagte der Papst am Freitag. Er traf sich mit Kinderschützern im Vatikan.
Von Cybermobbing ist etwa jeder fünfte Schüler betroffen. Eine Initiative hat Jugendliche über persönliche Erfahrungen schreiben lassen.
Der erste Versuch einer Aufklärung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche war gescheitert. Nun wird ein Forschungskonsortium beauftragt.
Das Projekt „GrenzWerte“ will Kinder gegen sexuelle Grenzüberschreitungen sensibilisieren. Auch Oma-Küsse und schmierige Sportlehrer sind Thema.
Jungen stehen jetzt stärker im Fokus der Diskussion über sexuelle Gewalt, sagt Thomas Schlingmann, aber noch nicht genug: Der Missbrauch zerstört ihr Männlichkeitsbild.
Viel wurde im Sommer über sexuelle Gewalt an Kindern debattiert – fast folgenlos. Die Stigmatisierung der Opfer ist geblieben und damit das Schweigen.
Haben die Grünen Missbrauch an Kindern zu verantworten? Die Partei hat eine AG gegründet, die sich nun mit dieser Frage befasst.
Angelika Oetken war als Kind Opfer sexueller Gewalt, heute ist sie Kämpferin für Betroffenenrechte. Ihr Engagement erlebt sie als Rehabilitation.
Der Pädagoge Manfred Kappeler wirft den Grünen vor, in der Pädophilie-Debatte herumzulavieren. Sie sollten jetzt ein Angebot machen.