taz.de -- Michel Serres Roman „Musik“: Kraftvoll ausgedehnter Sinn
Der französische Philosoph Michel Serres erforscht in seinem neuen Roman die Musik. Sie ist für ihn die Quelle aller denkbaren Erfindungen.
Musik und Sprache – vermutlich gibt es seit dem Aufkommen dieser beiden Artikulationsformen die Frage, in was für einem Verhältnis sie zueinander stehen. So wird immer wieder darüber debattiert, ob Musik auch eine Sprache sei. Evolutionär gesehen, kommt die Musik jedenfalls wohl an erster Stelle oder bildete einmal mit der Sprache eine Einheit, aus der sich die Sprache später erst als eigenes System herauslöste.
Mit Musik und Sprache und deren Verschlingungen ringt auch der französische Philosoph Michel Serres in seinem knapp „Musik“ betitelten Buch. Und was die Hierarchie der beiden angeht, gibt es bei ihm keinen Zweifel: „Die Musik ist kein Wissen, sondern ein Born, aus dem alle nur denkbaren Erfindungen entspringen. So auch die Philosophie.“
In der Musik sieht Serres dabei nicht nur die Sprache angelegt, sondern im Grunde die gesamte Struktur der Welt, von den Rhythmen – der Jahreszeiten, des Herzschlags, der Neuronenpulse – über die Harmonien, nach denen die Planetenbahnen geordnet sind, bis zur Sprache.
Die Musik ist es, die den Lärm am Beginn der Welt „glättet“, strukturiert, die ihm Sinn verleiht oder diesen vorzubereiten hilft. Diese musikalische Kosmogonie hat Serres in der ihm eigenen poetischen Sprache verfasst, er versucht sich daran, die Rolle der Musik in der und für die Welt selbst zu „singen“.
In drei Anläufen schildert er die Rolle der Musik unter den Überschriften „Lärm“, „Stimmen“ und „Wort“. Den Auftakt macht ein „Gesang“ um Orpheus, der in der Unterwelt von der „Mutter Gedächtnis“ die verschiedenen Musen vorgestellt bekommt, angefangen mit Polyhymnia, der Muse der Pantomime, und Terpsichore, der Muse des Tanzes, denen Serres als „Musen des Körpers“ den Vortritt lässt.
Die Musen sind es auch, die Orpheus über die Musik zu Sinn und Sprache führen. Dass er am Ende wieder in der Unterwelt endet und ein böses Schicksal nimmt – er wird schließlich von dionysisch veranlagten Mänaden in Stücke gerissen –, zeigt für Serres, dass Musik „als bedrohtes, menschliches Werk“ immer wieder ins Chaos zurückfallen kann.
Weniger tragisch gestaltet sich der zweite Gesang, in dem Serres seinen eigenen Weg schildert, den ihm die Musik gewiesen hat. Denn obwohl er als Kind Lieder komponiert habe, sei er mit der Musik nicht allzu weit gekommen. Aus Bequemlichkeit habe er sich bald allein der Sprache zugewandt, mit dem Ziel, die Kraft der Musik auf Worte zu übertragen. „Ich bin immer nur ein missratener Musiker“, fasst er seine Bemühungen zusammen.
Das Scheitern in der Sprache, wenn man so will, hat aber auch mit dem Bedeutungsverlust zu tun, den die Zuspitzung des Sinns in der Sprache mit sich bringt. Das Wort ist für Serres „einsaitig“, Musik hingegen ist „pansemisch“, hat einen Sinn, der „kraftvoll ausgedehnt“ ist. Für das semantisch pointierte Sprechen aber gilt: „Das Sagen-Wollen erschlägt die Sprache derart, dass es selbst die besten Schriftsteller zu Opfern ihrer Kunst macht.“ Eine Kritik, die auf die Philosophie gleichermaßen zutrifft – ein kleiner Seitenhieb vornehmlich gegen ihre analytischen Traditionen.
Serres‘Ungenügen an der Sprache hat zugleich sein Ohr verfeinert. Als er in jungen Jahren in Rom in einem Teehaus sitzt und den für ihn kaum verständlichen Kellnerinnen lauscht, erinnern ihn ihre Stimmen an die Klaviersonaten von Domenico Scarlatti. Ganz ähnlich lassen Rapper „ihre Phrasierungen aus der Musik heraus entspringen“, und auch im Jazz hört Serres ein „Komponieren durch Syntax“, in dem die musikalischen Verzierungen der Barockmusik bewahrt würden.
20 Nov 2015
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