taz.de -- Gewalt in der Silvesternacht: Respekt vor und von dem Staat
Die jungen Randalierer sollten Staat und Sicherheitskräften gegenüber Respekt zollen. Aber auch umgekehrt steht ihnen ein respektvoller Umgang zu.
Silvester hat dem Land mal wieder eine Integrationsdebatte beschert. Denn noch bevor überhaupt Genaueres über diejenigen, die Einsatzkräfte attackiert haben, bekannt werden konnte, melden sich zahlreiche Stimmen – auch aus der Bundespolitik – und fordern letztlich: stärkeres Durchgreifen „gegen Ausländer“. Grund für die massive und [1][gefährliche Böllerei] soll also irgendwie auch eine fehlgelaufene Integration sein.
Solche Wortmeldungen helfen wenig, sondern sie entlarven erneut, wie tief Rassismus im Denken verankert ist. Für Berlin hat die Polizei am Mittwoch [2][Zahlen] herausgegeben: Unter den 145 Tatverdächtigen, die sie in der Silvesternacht festgenommen hatte, seien 45 deutscher Herkunft. Unter den 100 anderen seien 18 Nationalitäten, unter anderem 27 Afghanen, 21 Syrer und neun Menschen aus dem Irak.
Noch vor dieser Veröffentlichung beklagte etwa Jens Spahn (CDU) den „fehlenden Respekt vor dem Staat“ und Neuköllns Stadtrat für Soziales Falko Liecke (CDU) sprach von einer Parallelgesellschaft, die mit „unseren Staatsorganen“ nichts zu tun habe und Repräsentanten des Staats „verachte“. Der Ruf nach „Respekt vor dem Staat“ mag sogar einleuchten, wenn Menschen auf der Straße Einsatzkräfte attackieren.
Entlarvend ist, dass er vor allem dann kommt, wenn als Täter Menschen identifiziert werden, die in irgendeiner Weise als nichtdeutsch wahrgenommen werden. Da ist es auch egal, ob sie einen sogenannten Migrationshintergrund und die deutsche Staatsbürgerschaft haben, ob sie hier regulär und dauerhaft mit unsicherem Aufenthaltsstatus leben oder sich auf dem Weg zur baldigen Einbürgerung befinden.
Viele Jugendliche sind traumatisiert
Wie aber könnte Respekt vor dem Staat erreicht werden? Redlich wäre es, das zu beantworten und nicht nur nach Repressionen zu rufen. Im Grunde ist das charmant einfach: Respekt kann ein Staat einfordern, der denjenigen respektvoll begegnet, die staatlicher Gewalt unterworfen sind. Gerade geflüchtete Jugendliche haben auf dem Weg nach Europa oft auf traumatisierende Art zu spüren bekommen, wie wenig ihre Rechte zählen, insbesondere wenn sie aus Afghanistan kommen.
Diese Erfahrung könnte durch großzügige und unterstützende Aufenthaltsregelungen und Hilfe beim Ankommen aufgefangen werden – doch allzu oft legen die Behörden ihnen Steine in den Weg und begegnen ihnen mit Misstrauen. Jeder Gang zur Ausländerbehörde ist mit Angst behaftet und Begegnungen mit Polizist*innen auf der Straße allzu oft von Kontrolle und Willkür geprägt.
Initiativen wie etwa „[3][Kein Generalverdacht]“ in Neukölln prangern regelmäßig unverhältnismäßige Polizeieinsätze in Shisha-Bars an und machen auf Stigmatisierung von Familien als „arabische Clans“ aufmerksam. Gewalt darf das nicht entschuldigen. Doch es differenziert den Blick. Und es darf nicht übersehen werden, dass hier dem Staat teils Heranwachsende gegenüberstehen. Beide Seiten müssen für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden.
4 Jan 2023
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Jugendliche hätten an Silvester in Kauf genommen dass jemand stirbt, behauptet der Regierende Bürgermeister. Belegen kann er das nicht.
Der Senat will in Neukölln erprobte Maßnahmen gegen Jugendgewalt auf alle Bezirke ausweiten. Sie richten sich an auffällige, gewalttätige Jugendliche.
Die Polizei sucht Verdächtige aus der Silvesternacht. Maßnahmen gegen Jugendgewalt lassen auf sich warten - und sind auf sieben Bezirke beschränkt.
Die CDU will Neuköllns Stadtrat Falko Liecke zum Staatssekretär machen. Das bedient Ängste vor einer Partei, die Silvester rassistisch ausschlachtete.
Bald soll die Einbürgerung leichter gemacht werden. In Berlin greift das allerdings erst mal nicht. Derzeit werden neue Anträge nicht einmal bearbeitet.
Franziska Giffey (SPD) lädt nach den Silvester-Krawallen zum Jugendgewalt-Gipfel. Akteure aus Sozialarbeit, Schule und Polizei und Feuerwehr fordern mehr.
Sebastian Czaja (FDP) setzt bei der Wiederholungswahl auf ein Bündnis mit CDU und SPD. Zusammenarbeit mit den Grünen kann er sich nicht vorstellen.
Ein Staat kann sich nicht gefallen lassen, wenn Rettungskräfte angegriffen werden. Aber die Debatte über die Täter ist erschreckend verblödet.
Halbstarke, Hausbesetzer, Hooligans: Deutschland hat viel Erfahrung mit jugendlicher Gewalt. Die Lehre: Repression allein hilft nicht weiter.
Bei der Debatte über Gewalt an Silvester sei der Fokus auf ethnische Herkunft falsch, sagt die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial.
Nach den Krawallen der Silvesternacht bedienen Rechte wieder gezielt die alten Reflexe vom bösen Migranten. Damit dürfen sie nicht durchkommen.
Nach den Angriffen an Silvester wird über Gesetzesverschärfungen diskutiert. Doch vieles ist geregelt – vom Böllerverbot bis zur Bodycam.
Nach Angriffen auf Feuerwehr und Polizei mehren sich Forderungen nach einem Verkaufsverbot von Feuerwerk. Doch Innenministerin Faeser lehnt das ab.
Nach zwei Jahren pandemiebedingter Ruhe ging es zum Jahreswechsel mal wieder richtig rund. Feuerwehr von der Heftigkeit der Angriffe überrascht