taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Das Meer wirkt düster und trüb – kein Lachen, kein Planschen“
Unsere Autorin liebt das Meer – auch weil es sie an ihren getöteten Vater erinnert. Nun hat Israels Militär den Menschen in Gaza das Baden darin verboten.
Als wir Kinder waren, standen wir am Strand, und ich zeigte auf den entferntesten Punkt, den wir über das Mittelmeer hinweg sehen konnten, und sagte zu meinem Bruder: „Weißt du, dass dort drüben die Türkei und Europa liegen? Sie sind ganz nah – nur das Meer trennt uns!“ Doch ich hatte mich geirrt: Es ist nicht nur das Meer, das uns trennt. Sondern Welten.
Wen auch immer man im Gazastreifen nach dem Meer fragt: Alle haben Erinnerungen daran – von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es gibt eine untrennbare Verbindung zwischen dem Meer und den Menschen im Gazastreifen.
Für mich war das Meer immer mit meinem Vater verbunden. Er war der Erste, der mir das Schwimmen beigebracht hat. Der Erste, der mich ermutigt hat, mich meinen Ängsten zu stellen und in die Tiefe zu tauchen. Der Erste, der mir gezeigt hat, wie das Meer mir Linderung verschaffen kann, wenn mich schwere Gedanken plagen.
Seine Beziehung zum Meer war unzerbrechlich. Im Winter ging er mit meinem Onkel und ihren Freunden angeln und grillte dann den Fang gleich auf dem Sand. Im Sommer nahm er jedes Wochenende die ganze Familie mit an den Strand: mit Tabletts voller Maqlouba – ein traditionelles palästinensisches Gericht aus Reis, Gemüse und Huhn – und natürlich der unverzichtbaren roten Wassermelone. Wir verbrachten den ganzen Tag damit, uns zu vergnügen: schwimmen, spielen, essen, lachen – bis die Sonne unterging.
Das Meer blieb ein Zufluchtsort – auch im Krieg
Ich habe mich immer gefragt: Wie leben Menschen ohne Meer? Wohin flüchten sie vor dem Lärm der Welt? Der Krieg hat mir und meiner Familie so viel genommen: unser Zuhause, unsere Stadt Beit Lahia, sogar meinen Vater. Ein israelischer Luftangriff tötete ihn im Frühling. Aber ich habe immer geglaubt, dass es eine Sache gibt, die auch der Krieg uns niemals nehmen kann: das Meer.
Selbst während des Krieges blieb es ein Zufluchtsort für die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas. Kinder und Erwachsene schwammen Tag wie Nacht darin, dazu kamen die Fischer in ihren Booten. Es gab ja nichts anderes zu tun. Selbst wenn die Menschen israelische Kriegsschiffe sahen, gingen sie weiter ins Wasser. Die Angst konnte ihnen nicht das Recht nehmen, zu schwimmen.
Doch vor einiger Zeit verkündete die israelische Armee ein Verbot, entlang der gesamten Küste Gazas ins Meer zu gehen. Gaza ohne sein Meer? Was für ein Wahnsinn ist das, fragen wir uns. „Jetzt braucht man sogar eine Genehmigung für das Meer“ – dieser Satz wurde jüngst von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern Gazas wiederholt, um sich über diese Entscheidung lustig zu machen.
Zunächst schenkten nicht viele Menschen dem Befehl Beachtung, und einige Fischer fuhren weiter, als hätte sich nichts geändert. Doch am Dienstagmorgen, dem 15. Juli, war alles anders. Zwölf israelische Kriegsschiffe unterschiedlicher Größe tauchten in der Nähe des Hafens von Gaza auf. Zu diesem Zeitpunkt war das Meer voller Menschen – Kinder, Erwachsene, Dutzende von Fischerbooten, die mit ihrem Fang zumindest ein paar Menschen ernähren könnten. Die Fischerboote zogen sich sofort zurück – und entkamen so womöglich einem Angriff. Die Kriegsschiffe führten Manöver in Küstennähe durch und feuerten Warnschüsse ins Wasser.
Das Meer ist nah – und doch so weit entfernt
Eine bedrückende Stille legte sich danach über das leere Meer. Auch an diesem Morgen ist es dort still, bis auf ein paar Kinder, die am Ufer sitzen. Das Meer wirkt düster und trüb – kein Lachen, kein Planschen.
Wohin sollen die Menschen jetzt fliehen, vor dem Lärm und dem Horror des Krieges? Es gibt keinen Ort mehr. Letztlich hat mir der Krieg auch noch das Meer genommen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem wir das Meer sehen können – aber es nicht berühren.
Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh. Sie wurde insgesamt acht Mal vertrieben.
Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
21 Jul 2025
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