taz.de -- 491 Tage in Hamas-Gefangenschaft: Im Tunnel von Gaza

Eli Sharabi war eines der Entführungsopfer beim Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober 2023. In einem bewegenden Buch beschreibt er seine Zeit als Gefangener.
Bild: Eli Sharabi im September 2025 in Herzlia in Israel

„Ich komme wieder!“, kann Eli Sharabi seiner Frau und den beiden Töchtern noch zurufen, bevor ihn Hamas-Kämpfer am Morgen des [1][7. Oktober 2023] aus dem Kibbuz Be’eri verschleppen. Sharabi hat da keine Schuhe an. Er wird die folgenden 491 Tage keine richtigen Schuhe tragen, keine saubere Kleidung am Leibe tragen und sich nur alle paar Wochen oder gar Monate waschen können. Der Familienvater wird keinen Kontakt mit der Außenwelt haben, er wird über keinerlei Privatleben verfügen, nur unzureichende Nahrung erhalten und unter extrem unhygienischen Umständen leben müssen. Er wird über Monate die Sonne nicht sehen können.

Eli Sharabi ist die erste der [2][von der Hamas entführten israelischen Geiseln], der mit einem Buch Zeugnis ablegt von dem, was er während seiner Haft durchstehen musste. Dieses Buch enthält keine politischen Erkenntnisse. Es ist überhaupt kein politisches Buch, auch wenn die Qualen, denen der Autor ausgesetzt war, selbstverständlich politisch motiviert waren. Es ist ein sehr menschliches Buch.

Früh in seiner Gefangenschaft entwickelt Sharabi eine Maxime, der er alle Entscheidungen und Verhaltensweisen unterordnet: Er will überleben. Deshalb legt er sich nicht mit seinen Entführern an. Deshalb versucht er, minimale Möglichkeiten eines aufrechten Gangs beizubehalten. Am wichtigsten ist ihm, seine Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten – essen, trinken, der Gang zur Toilette, waschen und säubern.

Der Autor schreibt in einfachen Sätzen sachlich und mit einer gewissen Distanz über das, was er erlebt hat. Doch das macht die Lektüre nicht leichter. Das Buch lässt sich nicht als Propaganda abtun, es ist weder pro- noch anti-israelisch, Bibi Netanjahu ist weder der Held noch das Arschloch, ja, er kommt kaum einmal vor. Auf 200 Seiten wird das stufenweise Herabsinken menschlicher Existenz beschrieben, dazu der Psychoterror, die Schläge, der bohrende Hunger. Und zugleich der nicht versiegende Optimismus des Autors, dass er überleben wird, die Solidarität mit den Mitgefangenen.

Erste Station Eli Sharabis nach seiner Entführung in [3][Gaza] ist ein Wohnhaus, wohin er gefesselt und unter strenger Bewachung verschleppt wird. Hier existiert noch eine Parallelwelt, denn nur wenige Meter neben seinem Gefangenenlager lebt eine arabische Familie, augenscheinlich eingeweiht und beteiligt an seiner Entführung. Es gibt noch winzige Freiheiten. Eli Sharabi kann die Sonne noch auf- und untergehen sehen.

Eli Sharabi ist zum Zeitpunkt seiner Entführung 51 Jahre alt. Er ist nicht mehr so sportlich wie ein 20-Jähriger, aber er verfügt über einige Lebenserfahrung. Dazu spricht und versteht er Arabisch, was ihm kleine Einblicke in die Welt seiner Peiniger ermöglicht. Er wird zunächst zusammen mit einem ebenfalls entführten Thailänder gefangengehalten. Eli Sharabi lernt seine Entführer kennen. Er gibt ihnen Spitznamen. Da ist Sa’id, er den Namen „Maske“ erhält, weil er als einziger maskiert ist. Der andere, Sa’ad, wird wegen seines Putzfimmels zum „Ausputzer“.

Die Parallelwelt verschwindet mit dem ersten Umzug in einen der Tunnel der Hamas. Der erste verfügt über Strom, Telefon und eine Art Badezimmer mit Toilette. Später, nach weiteren erzwungenen Umzügen, werden Verstecke dieser Art von Mal zu Mal primitiver, bis nur noch unerträgliche Enge, nackte Lehmwände und die Dunkelheit bleiben, dazu eine Ecke zum Entleeren von Darm und Blase und ein Platz zum Kauen der geringen Mengen Fladenbrot.

In den Tunnel ist Eli Sharabi nicht allein. Er trifft dort andere männliche israelische Geiseln, die wie er am 7. Oktober entführt wurden. Sie sind jünger als er, und einige stehen kurz vor dem psychischen Zusammenbruch. Die Entführungsopfer schwanken zwischen Solidarität, die ihnen Kraft gibt und bei der einer den anderen stützen kann, und Streit, der an so scheinbar banalen, aber doch nun lebenswichtigen Dingen wie der Frage aufbricht, ob man ein Stückchen Brot annehmen sollte, wenn dieses von einem der Entführer einem Einzelnen angeboten wird, nicht aber der Gruppe als Ganzes.

Unwissende Entführer, eingelullt von der Hamas-Propaganda

Die Entführer bleiben in der Beschreibung Eli Sharabis menschliche Wesen. Es sind keine Monster. Sie werden als unwissend beschrieben, zugleich als von der Propaganda der Hamas eingelullt, manipuliert und durchaus mordbereit. Aber doch als Menschen. Manche tragen menschlichere Züge, das sind diejenigen, die den Entführten winzig kleine Hilfen leisten, wenn der Boss sie nicht kontrollieren kann. Andere haben ihren Job als Terrorist so weit verinnerlicht, dass sie nicht zu solchen Regungen neigen. Und doch sind es draußen an der Erdoberfläche Familienväter mit einer Ehefrau und Kindern.

Die Qualen sind unendlich. Die Zeit ist es auch. Immer mal wird den Entführten erzählt, sie würden bald freigelassen. Doch nichts geschieht. Die Männer der Hamas verbreiten dazu Lügenmärchen von ihren Siegen und den Zerstörungen und vielen Toten in Israel.

Was der menschliche Körper und der menschliche Geist imstande ist auszuhalten, in diesem Buch erfährt man es. Der Autor spekuliert nicht darüber, was geschehen wäre, hätte man ihn ganz alleine in einem der Tunnel gefangen gehalten. Man mag es sich nicht ausdenken.

Nach 491 Tagen kommt Eli Sharabi frei. Er wird über das Internationale Rote Kreuz der israelischen Seite übergeben. Und erst jetzt, in Freiheit, erfährt er, dass seine Frau und seine beiden Töchter noch am 7. Oktober 2023 von der Hamas ermordet worden sind. Die Menschen, auf deren Wiedersehen er sich 491 Tage lang gefreut hat.

Ich habe dieses Buch nicht in einem Zug lesen können, musste ob des Inhalts immer wieder Pausen bei der Lektüre einlegen.

1 Dec 2025

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AUTOREN

Hillenbrand

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