taz.de -- Mangellage in den Kliniken: Jetzt bloß nicht krank werden
Die Lage in den Berliner Kinderkliniken bleibt angespannt. Kinderärzte sagen geplanten Streik nach „konstruktiven“ Gesprächen mit der Politik ab.
Berlin taz | Wenige Tage vor Weihnachten ist die Lage in Berlins Krankenhäusern – vor allem in Notaufnahmen und Kinderkliniken – weiterhin angespannt. Aber anders als in vorherigen Jahren ist Corona nicht das größte Problem. Zwar sei derzeit durch den leichten Rückgang der RS-Viren eine Entlastung zu erwarten, kommentierte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Burkhard Rodeck, gegenüber der taz. Aber auch während der Feiertage werde die Lage wohl nicht einfacher. „Die Personalsituation ist schwierig und wird schwierig bleiben.“
Die multiplen Krankheitswellen der letzten Zeit – neben Corona vor allem RS- und Grippe-Viren – sorgen nicht nur für volle Arztpraxen und Krankenhäuser. Es gibt [1][Lieferengpässe bei wichtigen Medikamenten]. Zudem melden sich immer mehr Ärzt:innen und Pflegekräfte krank, sodass das System doppelt überlastet ist – immer mehr Patient:innen treffen auf immer weniger Gesundheitspersonal. „Es ist in der Tat so, dass sich der Krankenstand gerade auch in den Kliniken extrem zuspitzt, so wie in allen Arbeits- und Lebensbereichen in unserer Stadtgesellschaft“, sagte Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) vergangenen Donnerstag bei der Plenarsitzung im Abgeordnetenhaus.
Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Christian Gräff (CDU), sagte bei dieser Gelegenheit: „Wir haben eine dramatische Situation, die noch nicht mal den Höhepunkt erreicht hat.“ Auf Vorschlag der CDU soll es deshalb am Dienstag eine Sondersitzung des Gesundheitsausschusses zur Lage in Berlins Kinderkliniken geben. „Da muss es einen Notfallplan für Berlin geben und den müssen wir diskutieren“, so Gräff.
Immerhin: Das Problem ist in der Politik angekommen. Nach einem Gipfelgespräch zwischen Gote und Vertreter:innen von Ärzt:innen und Kliniken sollen nun Medizinstudierende in Kinderkliniken und Rettungsstellen unterstützen. Zudem sollen Krankschreibungen für Schülerinnen und Schüler ausgesetzt werden, um das Personal zu entlasten. Auch die Koordinierungsstelle für Kindermedizin an der Charité soll weiter ausgebaut werden. Um mehr Kapazitäten für Notfälle frei zu halten, hat die Charité zudem angekündigt, ab Montag keine verschiebbaren Operationen mehr durchzuführen.
Politik ist aufgewacht
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte am Donnerstag ebenfalls weitere schnelle Unterstützung in der Kindermedizin zugesichert. Geplant sind Regelungen, um mehr Pflegekräfte in Kliniken zu finanzieren und Mehrarbeit überlasteter Praxen besser zu honorieren. Dazu sollen Kinderarztpraxen über ihr gedeckeltes Budget hinaus alle Leistungen, die sie erbringen, auch abrechnen können. Kommen sollen auch Maßnahmen gegen Lieferengpässe bei Medikamenten.
„Endlich sind die Politiker auch mal auf uns zugekommen“, kommentierte der Sprecher des Verbandes und Berliner Arzt Jakob Maske. „Das ist ein positives Zeichen.“ Auch mit der Berliner Verwaltung habe es „sehr produktive Gespräche“ gegeben. Deshalb haben Berlins Kinderärzte ihren für diesen Montag geplanten Protest abgesagt – eigentlich hätten zum Wochenbeginn mehr als hundert Praxen in Berlin geschlossen bleiben sollen, sagte Maske. „Wir haben uns nach den konstruktiven Gesprächen und zum Wohl der Kinder und Jugendlichen entschieden, offen zu lassen.“
Wie dramatisch die [2][Lage in den Kinderkliniken] ist, schildert der Oberarzt für pädiatrische Intensivmedizin, Andreas Wroblewski vom St.-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof im Gespräch mit der taz. Es herrsche eine „absolute Mangellage an Betten, Personal und Medikamenten“. Häufig beginne schon ab 12 Uhr die Bettensuche für neue Patient:innen, so Wroblewski. Mit Blick auf die Feiertage beschreibt Wroblewski den erwarteten Ansturm als „Hurrikan“.
Die Belegschaft an Berlins größtem katholischen Krankenhaus sei extrem frustriert über mangelnde Initiativen, während die Politik sich wegducke, so der Oberarzt. Dabei führe vor allem die fehlende Wertschätzung und das Ausbleiben einer angemessenen Vergütung zu einer immer größer werdenden Personallücke. Diese könne nur durch eine „Aufwertung“ des Pfleger:innenberufs geschlossen werden.
Zu wenig Personal auch in Zukunft
In naher Zukunft führe jedoch der Renteneintritt der Babyboomer-Generation zu einem „Wegbruch“ des Personals, befürchtet der Arzt. Hinzu komme die Verzögerung in der Ausbildung und die fehlenden Ausbildungszentren. Düstere Prognosen also. Die Weichen für die nächsten 10 bis 15 Jahre seien, ähnlich wie bei der Klimakrise, bereits gestellt, so Wroblewski.
Auch der Mediziner Christian Karagiannidis, der Lauterbach bei der angestrebten Reform der Krankenhausfinanzierung berät, prophezeite in der Wochentaz, dass die [3][kommenden zehn Jahre wegen der Personalsituation noch brenzliger] werden.
Laut Burkhard Rodeck kommt für die Kinderkliniken ein weiteres Problem hinzu: Kinderkliniken blieben im Sommer eher leer und seien im Winter umso voller. Die hohen Vorhaltekosten, welche für die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur anfallen, blieben aber dieselben. Dies führt laut Rodeck in rund 60 Prozent der Kinderkliniken zu Finanzierungsschwierigkeiten.
Auch die Versorgung mit Medikamenten stelle stationär bereits ein Problem dar, erklärt Rodeck: „Das Problem ist auch in den Kliniken angekommen.“ Momentan sei dies zwar durch viel Kreativität auszugleichen, dennoch sei die Knappheit an Arzneimitteln spürbar. Ursache für die Schwierigkeiten bei der Versorgung seien die erhöhten Herstellungskosten von kindgerechten Arzneimitteln wie Zäpfchen oder Saft im Vergleich zu herkömmlichen Medikamenten.
Durch die wirtschaftliche Unattraktivität gäbe es nur noch wenige Firmen, die den Markt bedienen, überwiegend mit Produktionsstätten in China, Indien und den USA. Dies darf eigentlich nicht sein, findet Rodeck: „Der Staat hat eine Daseinsvorsorgepflicht.“
19 Dec 2022
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