taz.de -- Olaf Scholz’ Rentenappell: Mal hü, mal hott

Kanzler Scholz will, dass ArbeitnehmerInnen nicht mehr früh in Rente gehen. Dabei hat seine Partei die Probleme großenteils selbst erzeugt.
Bild: Gehen für Scholz' Geschmack zu früh in Rente: Leute bei harter Arbeit (in Brunsbüttel)

Gäbe es einen Preis für die Kategorie „verdruckst, widersprüchlich und inkonsistent“ bei Politikthemen – er würde verlässlich jedes Jahr an die Rentenpolitik gehen. Neuestes Beispiel: Kanzler Olaf Scholz will wegen [1][des Arbeitskräftemangel]s mehr Leute dazu bewegen, bis zum offiziellen Rentenalter zu arbeiten – und nicht vorher in Rente zu gehen. Nachdem das tatsächliche Rentenalter in der Vergangenheit allmählich angestiegen war, wollen wieder mehr Beschäftigte vorzeitig aus dem Arbeitsleben aussteigen.

Ein Grund ist die Rente mit 63, einst ein Lieblingsprojekt von Scholz’ Partei SPD. Vor gut acht Jahren haben SPD-PolitikerInnen jedem, der nicht bei drei auf den Bäumen war, mit bebender Stimme von den „[2][Lebensleistungen der Menschen]“ erzählt, um die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren zu begründen. Lebensleistung – eine seltsame moralische Kategorie für das große Rechenwerk namens Rente, als ob nicht jeder Mensch etwas in seinem Leben leistet.

Gemeint waren die berühmten hart arbeitenden Facharbeiter und Krankenschwestern: Bei der Rente mit 63 hatte die SPD ihre ehemalige Kernklientel im Blick, die ihr zuvor wegen Hartz IV und, genau, Rentenkürzungen im Zuge der Rentenreform unter Rot-Grün und der späteren Rente mit 67 von der Fahne gegangen war.

Besser als eine chaotische Rentenpolitik, in der es mal „hü“ und mal „hott“ heißt, wäre eine ehrliche Analyse: Warum so viele ältere BeitragszahlerInnen vom Berufsleben die Nase voll haben und sogar Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen. Wie man das Arbeitsleben für Ältere attraktiver machen kann. Warum das individuelle Einstiegsalter in die Rente immer noch ein Randthema ist. Warum potenzielle Arbeitskräfte wie Asylsuchende ausgeschlossen werden, weil sie meist nicht arbeiten dürfen.

Ach so: Was sagt eigentlich Andrea Nahles dazu? Als Arbeitsministerin setzte sie die Rente mit 63 durch. Heute kämpft sie als Arbeitsagentur-Chefin mit dem Fachkräftemangel, den sie einst als Ministerin selbst mit verstärkt hat. Eine, nun ja, hübsche Pointe.

11 Dec 2022

LINKS

[1] /Arbeitskraeftemangel-in-Deutschland/!5868429
[2] /Kommentar-Rente/!5045021

AUTOREN

Gunnar Hinck

TAGS

Rente
Reden wir darüber
Generationen
Rente
Grundrente
Rente
Aktienrente
FDP
Inflation
Bundestag
Olaf Scholz

ARTIKEL ZUM THEMA

Rente in der Zukunft: Beamte und Vermögende ins System – es ist möglich!

Der Konflikt um die Rentenreform verdeckt, dass Teile von CDU und CSU längst an ihre alten Tabus gehen. Ein kluger Kanzler würde die Chance nutzen.

Marcel Fratzscher: Neues vom Wissenschaftspopulisten

DIW-Präsident Marcel Fratzscher hat zu allem etwas zu sagen – jetzt zur Zukunft der Rente. Er spielt dabei die Generationen gegeneinander aus.

Debatte um Abschaffung der Rente mit 63: Perfider Vorstoß

Spätes Renteneintrittsalter schützt weder vor Fachkräftemangel noch vor leeren Rentenkassen. Der Streit um die Rente mit 63 ist ein Nebenschauplatz.

Altersarmut durch Aktienrente: Rente für die Fonds

Die FDP hält an der Aktienrente fest. Ein Irrweg – davon profitieren Fondsgesellschaften und die Finanzbranche, nicht zukünftige Rentner:innen.

Sozialwissenschaftler über Rente mit 70: „Kein Sachzwang, das Rentenalter anzuheben“

Die Diskussion um das Renteneintrittsalter blende manches aus, sagt Florian Blank von der Hans-Böckler-Stiftung. Er fordert, mehr über die Gestaltung von Arbeit zu sprechen.

Neue Aktienrente: Kapitalgedeckte Pleite

Die Aktienrente soll es nun richten – ein gefährlicher Irrweg: An der Börse geht es nicht um Werte, sondern um Zukunftserwartungen und Spekulation.

Rentenalter Debatte: FDP fordert neues Rentenmodell

Das Rentenalter steigt Schritt für Schritt auf 67 Jahre. Die FDP fordert ein Modell des flexiblen Renteneintrittsalters.

Vorschlag von Ökonomen: Höheres Rentenalter gegen Inflation?

Die Preise steigen und steigen. Mehrere Wirtschaftswissenschaftler schlagen deshalb nun vor, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.

Staatliche Versorgung im Alter: Bundestag beschließt Rentenpaket

Das Gesetzpaket sieht vor, den Rentensatz erst einmal nicht abzusenken. Die Opposition kritisiert die Kosten. Debattiert wird auch, ob länger gearbeitet werden soll.

SPD und die Rentenreform: Scholz ist nicht der Retter der Rente

Der Finanzminister geriert sich heute als Retter des Rentensystems. Dabei sägte Olaf Scholz unter Rot-Grün einst selbst mit am Rentenniveau.