taz.de -- Entlastungspaket der Bundesregierung: Eine neue Armutsdebatte

Krisen und steigende Preise machen vielen Menschen Angst, in Armut abzurutschen. Wichtig wäre jetzt ein Inflationsschutz für Grundsicherungsempfänger.
Bild: Plattenbau in Leipzig-Grünau: immer mehr Menschen in Deutschland sind arm

Es gibt krasse Armutslagen. In London erzählte eine Rentnerin einem Stadtmagazin, dass sie nur noch jeden zweiten Tag ihre Toilettenspülung betätige, um Wasserkosten zu sparen. Ein zwangsgeräumter Rentner zieht als Obdachloser auf die Straße vor seinem Haus, um noch etwas Heimatgefühl zu spüren. So extrem ist es in Deutschland nicht, aber auch hier frisst sich die Armut von unten in die Gesellschaft hinein. Die neue Armutsdebatte unterscheidet sich dabei fundamental von der Diskussion um die Jahrtausendwende.

In den nuller Jahren war die Massenarbeitslosigkeit das politische Schreckgespenst. Heute suchen die Betriebe händeringend Arbeitskräfte. Aber das nützt jungen Leuten nichts, die zwar Jobs, aber in den Städten keine Wohnung für die Familiengründung finden. [1][Alleinerziehende], chronisch Kranke, die in der Jobwelt nicht bestehen können, fürchten, zu verarmen – ebenso wie Alte, deren Rente nicht mehr für die steigende Miete reicht.

Pandemie, Ukrainekrieg, Klimakrise, Urbanisierung: Die sich überlagernden Krisen und dazu steigende Preise machen Angst. Das Paket mit Einmalzahlungen für Hartz-IV-Empfänger:innen und das 9-Euro-Ticket wurden am Donnerstag im Bundestag abgestimmt, beziehungsweise in erster Lesung beraten. Diese und andere Hilfen sollen Entlastung bringen. Vieles davon ist richtig, aber die Passgenauigkeit ist ein Problem: Tankrabatte und superbillige Nahverkehrstickets sind für Gutverdienende überflüssig. Wir brauchen vielmehr eine Diskussion über neue Abgaben auf hohe Vermögen und Erbschaften. Wann, wenn nicht jetzt, soll diese Debatte kommen?

Die Grundsicherung muss ausgebaut werden. Es ist richtig, wie schon in der Coronakrise, dass Menschen Grundsicherung beantragen können und dabei ein kleines Geldpolster und ihre Wohnung behalten dürfen. Doch überdies sollte zumindest ein Inflationsschutz für Grundsicherungsempfänger:innen eingebaut werden, der bei starken Preiserhöhungen die Regelsätze zeitnah anhebt. Das wäre ein Thema für künftige Armutsdebatten. Sie werden kommen.

13 May 2022

LINKS

[1] /Steigende-Inflation/!5850250

AUTOREN

Barbara Dribbusch

TAGS

Schwerpunkt Armut
Hartz IV
Mieten
Inflation
GNS
Arm
Schwerpunkt Klimawandel
Kolumne Habibitus
Inflation
Gewerkschaft
Inflation
Bundeskabinett

ARTIKEL ZUM THEMA

Armutsdiskussion bei steigender Inflation: Ärmer heißt nicht arm

Die Inflation liegt auf einem Rekordhoch. „Wir werden ärmer“, sagen nun Politiker*innen. Aber wer sind eigentlich „wir“?

Tankrabatt setzt falsche Anreize: Für billigen Sprit zahlen alle

Als Teil des Entlastungspakets hat der Bundestag den Tankrabatt verabschiedet. Er setzt falsche Anreize und untergräbt die Klimapolitik.

Mit 9-Euro-Ticket zur Beachparty: Sylt, wir kommen!

Alle reden über die Insel. Die einen wollen hin, die anderen wollen ihre Ruhe und ihren Champagner für sich. Wie gut wäre die Party vor Ort wirklich?

Vorschlag von Ökonomen: Höheres Rentenalter gegen Inflation?

Die Preise steigen und steigen. Mehrere Wirtschaftswissenschaftler schlagen deshalb nun vor, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.

Tarifverhandlungen 2022: Kaum Spielraum für Gewerkschaften

Angesichts von Inflation und hohen Energiepreisen dürften die Tarifverhandlungen 2022 schwierig werden. Die bisherigen Ergebnisse sind bescheiden.

Steigende Inflation: Gemüse dann mal von der Tafel

Ärmere Haushalte hadern mit den durch die Inflation steigenden Lebensmittelpreisen. Auch für Bioläden sind die Zeiten schwierig.

Ampel will hohe Energiepreise abfedern: Kabinett beschließt Entlastungen

Die Bundesregierung hat sich auf ein zweites großes Maßnahmenpaket geeinigt, das die sozialen Folgen der hohen Energiepreise abdämpfen soll. Eine Übersicht.