taz.de -- Deutsche Version von „Queer Eye“: Mal reicht eine Umarmung

„Queer Eye Germany“ auf Netflix ist eine Anleitung zum Füreinander-Dasein, von der alle etwas lernen können. Taschentücher sollten griffbereit sein.
Bild: Die „Fab Five“: Jan-Henrik Scheper-Stuke, David Jakobs, Ayan Yuruk, Leni Bolt und Aljosha Muttardi

Der erste Tränendrüsenmoment kommt in Minute 25 – recht spät, aber wir sind ja auch in Deutschland. Kandidat Björn, stellt sich raus, hat Schwierigkeiten, Komplimente anzunehmen. „Wir kriegen das noch hin“, sagt Beautyexpertin David Jakobs und knetet Björn die verkrampfte Schulter. „Wenn du so was annimmst, dann siehst du es auch irgendwann selbst.“ Es sind diese Momente, für die [1][„Queer Eye“] berühmt ist. Nicht das Umstyling macht die US-Realityshow aus, nicht das Renovieren der Wohnung. Es geht um die Schwächen, Ängste und inneren Schweinehündinnen.

„Queer Eye“, die US-Realityshow über Beauty, Glück und innere Werte hat nun also einen deutschen Ableger. Für „Queer Eye Germany“ hat Netflix die US-amerikanische Rezeptur der Erfolgsserie eins zu eins nach Deutschland kopiert. Und was hätte man auch ändern wollen?

„Mehr als ein Makeover“, so hatte sich schon das Original beworben, als es 2018 auf Netflix an den Start ging. Mitten in der Trump-Präsidentschaft zogen vier schwule Männer und eine nonbinary Person durchs republikanische Hinterland, um Make-up-Tipps und Liebe zu verteilen. Ab Mittwoch machen das nun auch [2][fünf queere Personen aus Deutschland]. In der ersten Folge besuchen sie den schüchternen alleinerziehenden Vater Björn. Neben Stylistin David Jakobs besteht das Team der „Fab 5“ aus Designer Ayan Yuruk, Modeunternehmer Jan-Henrik Scheper-Stuke, Arzt und Vegan-Influencer Aljosha Muttardi für den Ernährungsbereich, der jetzt „Health“ heißt, und Leni Bolt als Life Coach.

Die fünf wollen Björn helfen, aus sich rauszugehen, Selbstvertrauen zu entwickeln, anstatt steif zu werden, wenn man ihn was Persönliches fragt. Denn am Ende der Woche will Björn auf ein Date gehen. Der Weg dahin ist hart, Björn schwer zu knacken. Überhaupt leidet die deutsche Version daran, dass Deutsche im Gegensatz zu US-Amerikaner*innen vor der Kamera viel weniger Emotion zeigen. Obendrein hat sich Netflix Niedersachsen als Location ausgesucht. Mhm. Joa. Schön. Ne. Aber nach Minute 25 klappts, Björns Schale bröselt. Und Spoiler: Es werden später noch Taschentücher gebraucht.

Alles positiv, sogar die Klischees

Das Erfolgsrezept von „Queer Eye“ lässt sich mit „Positive Reality“ beschreiben. Im Gegensatz zu Realityshows, die ihre „Normalos“ vorführen und erniedrigen, geht es bei „Queer Eye“ um Wertschätzung und Verständnis. Und so gehört zum Rezept, neben positive energy, Jubel und ständigen Gruppenumarmungen, dass sich die „Fab 5“ zu Beginn jeder Folge erst mal selbst zum Obst machen, etwa indem sie Björns Fanpullis überstreifen; und dass sie etwas über sich offenbaren (Ayan Turuk ist Scheidungskind). Das macht klar: Hier kommen keine überheblichen Beauty-Queers, sondern Freund*innen, die helfen wollen.

Das ist natürlich ziemlich simplifiziert und formalisiert. In einer Woche sollen die Leben dieser Menschen umgekrempelt werden, durch ein paar Gespräche, einen Haarschnitt und ein Umstyling. Obwohl, manchmal braucht es doch einfach nur die eine Umarmung oder die neue Flasche Nagellack im richtigen Moment, oder etwa nicht?

Zum Glück ist es nicht mehr zeitgemäß, Queers allein als Expert*innen fürs Oberflächliche zu casten: Haare, Nägel, Tapeten. Heute treten die [3][LGBTIQ]-Expert*innen auch als Menschen mit Feingefühl fürs Seelische auf. Liebe, Schmerz, Trauer und Fürsorge. Am Ende mag das auch nur wieder ein positives Klischee sein, aber es gibt der medialen Repräsentation der Community immerhin ein wenig Tiefe.

Dass jedenfalls „Queer Eye Deutschland“ sich nicht vor ernsten und politischen Themen scheut, zeigen die weiteren Folgen. Die 18-jährige Marleen betrauert den Verlust ihrer Familie und ihrer unbeschwerten Kindheit. Der 22-jährige Nils ist Fußballtrainer und hat Angst, sich im Verein als schwul zu outen. Schön hier: Anstatt dass Netflix mit drei Kameras im Anschlag den Verein zum Nettsein zwingt, bleibt am Ende offen, wie es Nils mit seinem Coming-out ergehen wird.

„Queer Eye Germany“ hat genau das Richtige getan, nämlich die US-Rezeptur beinahe exakt zu übernehmen und gar nicht erst etwas Neues zu erfinden. Die funktioniert nämlich. Im Trump-Amerika ebenso wie in einem Deutschland zwischen Queerphobie, Querdenkerei und Neuer Härte. Die Show ist eine Anleitung zum Füreinander-Dasein, von der die LGBTIQ-Community ebenso etwas lernen kann wie alle anderen. Fünf queere Personen, die so, wie sie sich hier kleiden und geben, auf deutschen Straßen jederzeit mit Hass und Gewalt rechnen müssen, verbreiten Wohlwollen statt Bitterkeit. Solchen Fernsehzauber kann man gerade in dieser Zeit gut gebrauchen.

8 Mar 2022

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AUTOREN

Peter Weissenburger

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