taz.de -- 30 Jahre Einheit im Bayerischen Wald: Finger weg von unserer Waldbahn!

Im Bayerischen Wald fährt am Fluss Schwarzer Regen eine Bahn. Die Verbindung sollte nun gestrichen werden, aber die Menschen wehrten sich.

Passau taz | Die Menschen im Bayerischen Wald sind vor allem auf zwei Dinge stolz: auf ihren Dialekt, den außerhalb nur wenige verstehen. Und auf die Landschaft, auf das grüne Dach Europas. Ein Satz fällt immer wieder: „Wir leben da, wo andere Urlaub machen.“ Stimmt ja auch. Im Coronasommer 2020 haben einige Gemeinden in der Region an der Grenze zu Tschechien Übernachtungsrekorde vermeldet.

Nur wollen die Menschen, die dort leben, wo andere Urlaub machen, eben auch einmal dort Urlaub machen, wo andere leben. Dafür müssten sie aus dem Bayerischen Wald aber wegkommen. Und das ist schwierig, zumindest ohne Auto.

Was das Bayerische Verkehrsministerium Ende August verkündete, war ein Schock für die Bewohner des Landkreises Regen im Norden des Mittelgebirges. Nach fünf Jahren Probebetrieb, hieß es in einer kargen Pressemitteilung, soll die Bahnstrecke zwischen Gotteszell und Viechtach eingestellt werden. Sie verkehrt stündlich durch das Tal des Schwarzen Regens, das der Landkreis werbewirksam „Bayerisch Kanada“ nennt.

Touristen reisen auf der Strecke an, Einheimische nutzen die Verbindung, um zur Arbeit zu pendeln, oder als Ausgangspunkt für Reisen. Zwei Umstiege und knapp drei Stunden später können sie am Münchner Flughafen sein.

Wirtschaftlich nicht rentabel

Im September 2021 solle der letzte Zug fahren, schrieb das Ministerium, ohne irgendjemanden vorgewarnt zu haben. Die Fahrgastzahlen lägen weit unter dem geforderten Wert. Während die Behörde fordert, dass jeder Kilometer pro Tag von 1.000 Fahrgästen passiert werden muss, schafft die Waldbahn keine 500. Nach offizieller Rechnung wirtschaftlich und ökologisch nicht rentabel. Klarer Fall? Eben nicht.

In den Tagen nach der Mitteilung begehrt der Landkreis auf. Politiker aller großen Parteien schließen sich zusammen. In Bayern lässt sich die Brisanz eines Themas immer gut am Auftreten der CSU ablesen. Wenn sich hochrangige Mitglieder öffentlich bekriegen, brennt der Baum.

Landtagskollegen, Ex-Minister, Bürgermeister werfen CSU-Verkehrsministerin [1][Kerstin Schreyer] vor, nur den Ballungsraum München im Blick zu haben und sich gegenüber dem Bayerischen Wald „herablassend, despektierlich und abschätzig“ zu verhalten, wie Kreisvorstand Stefan Ebner, 2017 Landratskandidat der CSU, es ausdrückt. Von der AfD bis zu den Grünen – alle dreschen auf Schreyer ein, die im Sommerurlaub war, als ihre Mitarbeiter die Nachricht veröffentlichten.

Da ist er wieder, der eigentlich längst überwundene Komplex der Bayerwäldler: Die Elfenbeinturm-Politiker im Münchner Maximilianeum interessierten sich nicht für die ländlichen Gebiete, schon gar nicht für die ehemalige Grenzregion am Eisernen Vorhang.

Wenn Politiker im Landtag von Aufsteigerregionen reden, dient ihnen der Bayerische Wald oft als Paradebeispiel. Wirtschaftlich hat sich die Gegend um den [2][Großen Arber] prächtig entwickelt. Der Tourismus floriert, der beliebteste Urlaubsort [3][Bodenmais] vermeldet Jahr für Jahr Übernachtungsrekorde – 2019 waren es mehr als 800.000.

Genauigkeit und Verlässlichkeit

Die Menschen schätzen die Ruhe im größten zusammenhängenden Waldgebiet Europas mit seinen malerischen Flusstälern. Handwerksfirmen sind über Monate ausgebucht. Schreinereien produzieren für die Deutsche Bahn, Elektrounternehmen erhalten Großaufträge vom Freistaat. Gerade im Ballungsraum München setzen Auftraggeber auf die Genauigkeit und Verlässlichkeit der Bayerwäldler – und auf die niedrigen Preise, die sie aufrufen.

Die Region profitiert auch von der Nähe zum BMW-Produktionsstandort Dingolfing. Trotzdem: Die Arbeitslosenzahlen sind nach wie vor höher als in anderen Landkreisen Niederbayerns, das Lohnniveau niedriger. Der „Woid“, zu DDR-Zeiten gefangen im Niemandsland zwischen West und Ost, hat den Rückstand seit der Wende verkürzt, aber noch nicht aufgeholt. Das zeigt sich auch im öffentlichen Nahverkehr.

„Was den ÖPNV angeht, fangen wir bei null an“, sagt Rita Röhrl, die Regener Landrätin. Viele Dorfbewohner kennen Linienbusse nur aus dem Fernsehen. Wenn es gut läuft, kommt zweimal am Tag ein Schulbus vorbei.

Die Waldbahn zwischen Gotteszell und Viechtach soll das Rückgrat eines ÖPNV-Konzepts sein, das der Landkreis gerade für viel Geld ausarbeitet. Ein Linienbussystem, abgestimmt auf die Fahrzeiten der Waldbahn, soll Menschen ohne Auto mobil machen. Junge Erwachsene könnten zur Arbeit oder Uni pendeln, Ältere und Menschen mit Behinderung barrierefrei reisen. Das Konzept des Landkreises soll das Auto nicht ersetzen, aber ergänzen.

Eine Kommunikationspanne?

Seit 1991 fuhren auf der Waldbahn-Strecke keine Personenzüge mehr. Mehr als ein Jahrzehnt kämpfen Ehrenamtliche nun schon um die dauerhafte Reaktivierung der Strecke. Ein Meilenstein: der Start des Probebetriebs 2016.

Im Vergleich zu anderen Regionalbahnen in Niederbayern wird die Waldbahn gut angenommen, doch schnell ist klar: Die 1.000er-Grenze wird sie wohl nie erreichen. In der Region fühlt man sich durch diese Vorgabe gegängelt. „Es wurde immer wieder nach Argumenten gesucht, die gegen die Reaktivierung sprechen“, sagt der ehemalige CSU-Landtagsabgeordnete und Landwirtschaftsminister Helmut Brunner rückblickend. 2018 sollte der Probebetrieb enden, doch die Region erkämpfte sich drei weitere Jahre. Und nun?

Zwei Wochen nach der Pressemitteilung steht Verkehrsministerin Kerstin Schreyer an einem Spätsommerabend auf dem Regener Stadtplatz. Ihr gegenüber: 300 Demonstranten. Sie pfeifen, buhen. Schreyer muss sich stellen, der Druck war zu groß geworden. Und sie hat eine Nachricht im Gepäck, mit der die Demonstranten nicht gerechnet haben.

Sie nimmt die Waldbahn-Entscheidung zurück und staucht bei der Gelegenheit öffentlich ihre Mitarbeiter zusammen: Diese hätten in ihrem Urlaub eine Entscheidung bekannt gegeben, die noch gar nicht abschließend getroffen worden sei. Eine Kommunikationspanne, räumt Schreyer ein. Ein bemerkenswerter politischer Vorgang.

Die Kernbotschaft Schreyers lautet: Die Waldbahn darf vorerst weiterfahren – ohne zeitliche Begrenzung. Wenigstens so lange, bis eine Studie zum öffentlichen Nahverkehr im Bayerischen Wald fertig ist. Das wird noch mindestens zwei Jahre dauern.

Nicht aufs Abstellgleis

Danach soll neu bewertet werden. Die Pfiffe auf dem Regener Stadtplatz werden leiser. Nach Schreyers Rede: Applaus. „Viele Menschen erwarten von Politikern nicht, dass sie sich entschuldigen“, sagt Schreyer später. In einer Region, in der man sich die Dinge ins Gesicht sagt, kommt die hemdsärmlige Art der Ministerin an.

Dieser 7. September 2020 könnte der Anfang vom Dauerbetrieb der Waldbahn sein. Und es könnte der Tag gewesen sein, an dem sich in der Region die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man eben nicht alles schlucken muss, was einem aus dem fernen München vorgesetzt wird. Wenn man nur eng genug zusammenrückt, kann man sogar die Entscheidung eines Ministeriums kippen.

Oder wie Ex-Landwirtschaftsminister Brunner es formuliert: „Das Thema hat die Region zusammengeschweißt. Die Menschen spüren: Die Region darf nicht aufs Abstellgleis gestellt werden.“

4 Oct 2020

LINKS

[1] /Deutsches-Museum-und-Obersalzberg/!5675954
[2] https://www.bayerischer-wald.de/Media/Attraktionen/Grosser-Arber
[3] https://www.bayerischer-wald.de/Urlaubsthemen/Wellness/Bodenmais

AUTOREN

Alexander Augustin

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