taz.de -- Künstlerquartiere in Berlin: Die Zähmung des wilden Weddings
Die Wiesenburg – einst Obdachlosenasyl und heute Künstlerdomizil – soll ein Modellfall für umsichtige Stadtentwicklung werden. Kann das klappen?
Berlin taz | „Am liebsten sollte alles so bleiben, wie es ist. Geht aber nicht“, sagt der Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung von Berlin-Mitte Ephraim Gothe (SPD) am Mittwoch in der „[1][Wiesenburg]“. Denn dass diese sich ständig verändert, dafür sorgen allein schon die Wurzeln der auf der Teilruine wuchernden Bäume, die die Mauern langsam, aber sicher sprengen würden.
Sie gehören zum ehemaligen Obdachlosenasyl zwischen dem Flüsschen Panke und der Wiesenstraße im Wedding. Nichts tun kommt deshalb für den derzeitigen Besitzer, die Wohnungsbaugesellschaft degewo, nicht in Frage. Außerdem sollen Immobilien ja Gewinne abwerfen – auch bei einer landeseigenen Gesellschaft, die für städtischen Wohnraum sorgen soll.
Das Gothe „an ein Dornröschenschloss“ erinnernde Areal mit seinen zugewucherten Ruinen soll ein Modellfall für die Stadtentwicklung werden. Mit einer „Revitalisierung“ der 1896 durch den Berliner Asylverein errichten Notunterkunft möchte man zeigen, wie man in einer wachsenden Metropole wie Berlin den „vorbildlichen Wandel“ im Sinne einer „gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung“ hinbekommt. So wünscht es sich jedenfalls Katrin Lompscher (Linke), Senatorin für Stadtentwicklung.
Da das nicht einfach ist, wurde am Mittwoch eine „Kooperationsvereinbarung“ der fünf an der Weiterentwicklung beteiligten Partner unterschrieben. Als da wären: die degewo als Eigentümerin, die hier neue Wohnungen bauen will; die Mieter in den erhaltenen Teilen des Areals, die hier Kultur und Gewerbe betreiben; das Quartiersmanagement, das auf Öffnung des privaten Geländes drängt und kulturelle und identitätsstiftende Angebote für die Nachbarschaft sucht; und schließlich die Politik von Bezirk und Senat, die politische Erfolge vorweisen will.
Wie Stadtentwicklung in die Hose gehen kann, ist schließlich nur einen paar Schritte [2][entfernt an der Gerichtstraße] zu besichtigen. Hier hatte die Politik in den nuller Jahren dafür gesorgt, dass das marode Stadtbad Wedding an privat verkauft wurde. Eine plötzlich aufblühende kulturelle Zwischennutzung mit Street‑ und Urbanart zeigte das Potenzial des Ortes. Am Ende wurde das Gebäude abgerissen, die Szene vertrieben. Nun steht dort ein Wohnklotz, der all das eben nicht bietet, was man jetzt bei der Wiesenburg als vorbildliche Mischung aus „Kultur‑, Sozial‑ und Stadtgeschichte“ erhalten und entwickeln will.
Dass eine solche Entwicklung der Wiesenburg unter „Bewahrung des Erscheinungsbildes des gesamten Geländes“ genauso scheitern könnte, zeigt der Blick in den Kooperationsvertrag über Ziele und Projektablauf, bei dem Konfliktlösungen zwischen den Beteiligten und Ausstiegsklauseln schon mit eingebaut wurden. So ist ein unabhängiger Mediator für Konfliktlösungen während der Projektlaufzeit vorgesehen.
Die zehn eng beschriebenen Seiten des Kooperationsvertrags offenbaren die ganze Tücke des Projekts. Denn die besteht genau darin, ganz verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen, vom Eigentümer über die Anwohner bis zu den bisherigen Nutzern. Die Kulturschaffenden in der Wiesenburg haben gemerkt, dass sie mit Musik- und Kunstfestivals und öffentlichen Veranstaltungen als Katalysatoren für einen lebendigen Kiez fungieren. Das schafft Legitimation, um ihre angestammten Wohn‑ und Werkstätten, Proberäume und Ateliers in der Wiesenburg zu retten. Ringsum im Wedding wird inzwischen ja mächtig gentrifiziert. Katrin Lompscher selbst sprach am Mittwoch in Bezug auf Orte wie die Wiesenburg von „Oasen, die tendenziell weniger werden“.
Bleibt das „Oasische“?
Ob das „Oasische“ am Ende der „Revitalisierung“ wirklich bestehen bleibt, wird sich zeigen. Schon Ende 2023 soll alles fertig sein: die Sanierung der teils ruinösen Reste des ehemaligen Obdachlosenasyls mit großer Sammelhalle, Bädern, Bibliothek, von denen nun oft nur noch die Ziegelmauern stehen. Wie behutsam mit der Bausubstanz umgegangen werden soll, bedarf der Abstimmung mit dem Denkmalschutz. Der gerade unterschriebene Vertrag spricht übrigens auch vom „Abbruch ungenutzer Gebäudereste“.
An potenziellen Nutzern der zukünftigen Räumlichkeiten in der Wiesenburg fehlt es sicher nicht. Welche Kreativen einziehen dürfen, wird allerdings ebenfalls noch unter den Unterzeichnern abzustimmen sein. Wie die „zukunftsfähigen Angebote“ und „Nutzungspotentiale“ bei „Wohnen, Kunst, Kultur und Handwerk“ im Einzelnen aussehen sollen, verrät die aktuelle Vertragsprosa nicht.
Auch wie weit sich die Wiesenburg mit einer neuen „Durchwegung“ der Allgemeinheit öffnen wird, ist noch nicht festgelegt. Ein Fußweg entlang der Panke über und durch das Grundstück würde die Zulieferung für die Ateliers und Gewerke am Ort behindern. Außerdem fürchten die Mieter Vandalismus und nächtliche Angsträume.
Und ob der massive Neubau auf dem Areal nicht allzu sehr der „Oase“ auf die Pelle rückt, ist auch noch die Frage. Bis zum nächsten Frühjahr soll ein Riegel mit 102 Wohnung an der Ostseite des Grundstücks der Wiesenburg fertiggestellt sein. Dann teilen sich die rund 20 Bewohner der Wiesenburg den Ort plötzlich mit 250 neuen Nachbarn an einer Stelle, die zuvor verwildert war. Die neue Dichte auf dem Areal könnte durchaus Probleme bringen – etwa was die Lärmbelastung angeht.
7,5 Millionen Euro Fördermittel
Aber der Neubau mit seinen Mieteinnahmen durch die degewo ist die Voraussetzung für den Erhalt bezahlbarer Mieten im zu sanierenden Altbau. Bei Entwicklungskosten von 12,5 Millionen Euro wird helfen, dass das Wiesenburg-Projekt 7,5 Millionen Euro Fördermittel von Land und Bund bekommt.
Es ist daher die Frage, ob die Wiesenburg wegen der üppigen Sonderförderungen überhaupt ein Modell für Stadtentwicklung sein kann oder doch eher als Ausnahmefall gelten muss – vielleicht sogar als Kniff zum Erhalt dieser einzigartigen Oase.
19 Jun 2020
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