taz.de -- Langzeitfolgen sozialer Isolierung: „Angst, Verzweiflung, Aggressionen“

Die psychosozialen Folgen der Corona-Kontaktsperre sind nicht abzusehen. Viele der Betroffenen haben das Gefühl, die Türen seien überall für sie zu.
Bild: Social Distancing kann depressive Symptome, Schlafstörungen und Schuldgefühle auslösen

Berlin taz | Soziale Isolierung wird momentan als Königsweg zur Eindämmung der Corona-Pandemie angesehen. Leider weisen die statistischen Modelle, auf denen die Entscheidungen der Politiker beruhen, keine Variable „seelische Gesundheit“ aus. So weiß man kaum etwas über die [1][psychischen Folgen] der Kontakteinschränkungen.

Auch der bisherige Forschungsstand zum Thema ist dürftig. Bislang sind zwei Studien bekannt, deren Inhalt allerdings alarmierend ist. So wertete das [2][Deutsch-chinesische Alumnifachnetz in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie] [3][(DCAPP)] die Daten von 2.144 Anrufern einer Krisenhotline in Wuhan aus, die zwischen dem 4. und dem 22. Februar erhoben wurden. 47 Prozent der Anrufenden berichteten über Angstzustände. Auch depressive Symptome, Schlafstörungen und Schuldgefühle waren häufig. Viele Anrufer hatten körperliche Beschwerden ohne physischen Befund.

Informationen über die Langzeitfolgen sozialer Isolierung lassen sich der Märzausgabe der Wissenschaftszeitschrift [4][The Lancet ] entnehmen. Hier wurden 24 Studien aus mehreren Ländern zusammengefasst. Alle erhoben die psychische Befindlichkeit von Menschen, die während früherer Epidemien unter Quarantäne standen. Auch Jahre danach zeigten sich negative Effekte wie Schlafstörungen, Ängste und Depressionen. Kinder, die unter Quarantäne standen, hatten ein vierfach höheres Risiko für ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Besonders anfällig für Langzeitfolgen waren Menschen in Gesundheitsberufen und Personen mit niedrigem Einkommen.

Inwieweit diese Ergebnisse auf die Situation in Deutschland übertragbar sind, lässt sich schwer sagen. Ein Indikator für das emotionale Stresslevel könnte aber der rasante Anstieg der Anrufe bei der [5][Telefonseelsorge] sein. In Berlin-Brandenburg haben sich die Anrufe seit Anfang März fast verdoppelt. Erst war die Corona-Angst das beherrschende Thema. „Niemand wusste, was auf ihn zukommt“, sagt Dienststellenleiter Uwe Müller. „Die Fernsehbilder aus Italien haben die Menschen in Panik versetzt.“ Jetzt stünden ein gewisser „Lagerkoller“ und Einsamkeitsgefühle im Vordergrund.

Notfallpsychologe Florian Stöck, der für den [6][Bundesverband Deutscher Psycholog*innen (BDP)] an der Hotline sitzt, sieht vor allem die Entwicklung in Krankenhäusern und Pflegeheimen mit Sorge. Dort lösten die Kontaktsperren oftmals „Angst, Verzweiflung und Aggressionen“ aus. Das gelte für die Menschen in den Einrichtungen wie ihre Angehörigen. Pflegekräfte müssten beide Gruppen beruhigen und seien mit der Situation überfordert. Besonders dramatisch sei die Lage bei Demenzkranken, die die Maßnahmen nicht verstehen könnten. Hier sei die Belastung für die Pflegenden besonders hoch.

Shutdown der psychosozialen Versorgung

Auch die Situation von chronisch psychisch kranken Menschen ist kritisch, worauf die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) in einem [7][offenen Brief (pdf-Datei)] an die Kanzlerin verweist. Mit dem [8][allgemeinen Shutdown] ging auch ein beispielloser Shutdown der psychosozialen Versorgung einher. Psychiatrien entließen viele Patienten, um Platz für Coronastationen zu schaffen. Reha-Maßnahmen in psychosomatischen Kliniken wurden ausgesetzt. Die meisten Tageskliniken und Beratungsstellen für Menschen mit psychischen Problemen wurden geschlossen. Selbsthilfegruppen und -treffpunkte sind dicht.

Die Auswirkungen davon bekommt Simon Geils von der [9][Berliner Kontakt- und Beratungsstelle (KBS) Terra] zu spüren, die psychiatrieerfahrene Menschen berät: „Viele Klient*innen haben das Gefühl, dass die Türen überall für sie zu sind.“ Das löse Ängste aus und könne Symptome verstärken. Auch in der KBS finden keine persönlichen Beratungen mehr statt, alle Freizeitgruppen wurden geschlossen. Über Telefongespräche versucht man den Kontakt aber weiterhin aufrecht zu halten. Geils ist erstaunt, „wie gut einige Klient*innen durch die Krise kommen“. Offensichtlich brächten manche ungeahnte Bewältigungskompetenzen mit.

Auch Christina Rummel von der [10][Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)] will keine Katastrophenszenarien malen, auch, „weil es bislang noch kaum belastbare Zahlen gibt“. Für die Suchthilfe seien allerdings die wöchentlich stattfindenden Gruppenmeetings unerlässlich. Sie hofft, dass Onlineangebote die physischen Treffen wenigstens teilweise ersetzen und die Rückfallquote nicht in die Höhe schnellt. Alkohol sei leider auch immer ein vermeintlicher „Sorgenbrecher“. Wenn der psychische Stress zu stark werde, erscheine der Griff zur Flasche als Ausweg. „Man muss schon sehr aufpassen, dass man dann nicht in eine Abhängigkeit rutscht.“

Dabei sind die psychosozialen Kosten des Shutdowns nicht einfach ein zusätzlicher Posten, den man zu den allgemeinen Kosten hinzuaddieren muss. Psyche und Körper lassen sich nicht voneinander trennen. Seelische Faktoren beeinflussen auch das Infektionsrisiko. Die Neuropsychoimmunologie liefert dazu eindeutige Befunde: Soziale Isolation – das zeigen alle Studien – erhöht das Mortalitätsrisiko. Psychisches Wohlbefinden stärkt die Immunabwehr, während emotionaler Stress die Abwehrkräfte schwächt. Ein eigentlich banaler Zusammenhang, der jedoch beim starren Blick auf Infektionskurven leicht verloren geht.

19 Apr 2020

LINKS

[1] /Psychotherapeut-ueber-Telefontherapie/!5673623
[2] https://www.dcapp-germany.com/
[3] https://www.dcapp-germany.com/
[4] https://www.thelancet.com/
[5] https://www.telefonseelsorge.de/
[6] https://www.bdp-verband.de/
[7] https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/DGSP_Offener_Brief_an_Angela_Merkel_zur_Corona-Krise.pdf
[8] /Haeusliche-Gewalt-in-Zeiten-der-Isolation/!5678944
[9] http://kbs-berlin.net/kbs-kurzportraits/kontakt-und-beratungsstelle-treffpunkt-terra/
[10] https://www.dhs.de/start.html

AUTOREN

Schediwy

TAGS

Schwerpunkt Coronavirus
Quarantäne
Kontaktsperre
Psychologie
Einsamkeit
Fremd und befremdlich
Evangelische Kirche
Werbepause
Schwerpunkt Coronavirus
Lesestück Recherche und Reportage
Sekte
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus

ARTIKEL ZUM THEMA

Kinder in der Pandemie: Wir müssen reden

Kinder erleben die Pandemie sehr unterschiedlich. Aber eines ist klar: Auch sie leiden darunter. Dieses Problem müssen wir anerkennen.

Pastor über die Aktualität der Seelsorge: „Viele Debatten erlebt“

Krischan Heinemann, neuer Leiter des Beratungs- und Seelsorgezentrums an St. Petri in Hamburg, hat mitten in der Coronakrise den Job gewechselt.

US-Militär gegen Corona: Weltkrieg-Ästhetik gegen das Virus

Das US-Militär ruft zum Social Distancing auf, mit Fotos im Stil alter Mobilisierungs-Propaganda – und entgegen der Linie von Präsident Trump.

Demente Großeltern in der Coronakrise: „Wo genau bist du jetzt gerade?“

Jeder Tag unserer Autorin beginnt mit einem Anruf ihrer Großmutter. Die sitzt im Heim, hat Demenz und darf nicht mehr besucht werden. Sprechen geht.

Psyche und Corona: Jetzt nur keine Panik

Corona macht uns ängstlicher, trauriger, vorsichtiger. Wie aber geht es Menschen, die an Angststörungen, Hypochondrie oder Depressionen leiden?

Corona und Vergangenheitsbewältigung: Alles ist Bonuszeit

Unsere Autorin hat eine Immunschwäche und ist in einer Sekte aufgewachsen. In der Quarantäne holt die Vergangenheit sie ein.

Mundschutz gegen Corona: Maskenschutz möglich machen

Die Regierung empfiehlt den Mundnasenschutz. Aber sie kümmert sich nicht ausreichend um Masken für alle.

Haptikforscher über menschliche Nähe: „Wir Säugetiere sind Kontaktwesen“

Berührungen sind für den Menschen essentiell, sagt Martin Grunwald. Er erklärt, was man jetzt tun kann – und warum wir uns so oft ins Gesicht fassen.

Wirkung des Kontaktverbots: Fakten dringend gesucht

Wann übersteigen die Schäden durch den Stillstand den gesundheitspolitischen Nutzen? Für diese Diskussion braucht man valides Zahlenmaterial.

Maßnahmen gegen Coronavirus: Zügige Forschung gefordert

Die Bundesregierung plant keine wissenschaftliche Evaluation der Anti-Corona-Maßnahmen. Dafür wird sie nun heftig von der Opposition kritisiert.