taz.de -- Proteste in Mexiko: Jeden Tag zehn tote Frauen
In Mexiko gehen Tausende gegen Feminizide und sexuelle Gewalt auf die Straßen. Der Druck auf Präsident López Obrador wächst weiter.
MEXIKO-STADT taz | Eine Leiche am Straßenrand, der Körper brutal zugerichtet, die Haut blutig und aufgerissen – das letzte Foto von Ingrid Escamilla wurde an jedem Kiosk Mexikos zur Schau gestellt. Sie ist 25 Jahre alt geworden, hatte Tourismusmanagement studiert und lebte in einem Viertel nahe des Zentrums von Mexiko-Stadt. Dort fand man sie, von ihrem Freund ermordet.
Wenig später erschienen Bilder, die Ermittler von Escamillas Leiche aufgenommen hatten, auf den Titelseiten mehrerer großer Zeitungen. „Es ging nur darum, die Sensationsgier der Gesellschaft zu nähren“, kritisierte die Anwältin Verónica Bérber.
Für Feministinnen und Angehörige von Opfern sexualisierter Gewalt war die Veröffentlichung der Fotos dagegen ein weiterer sexistischer Angriff in einem Land, in dem täglich zehn Frauen ermordet werden. 2019 starben offiziellen Angaben zufolge 3.825 Frauen eines gewaltsamen Todes, 976 der Fälle gelten als Feminizide, also als Morde aus geschlechtsspezifischen Gründen. Mehrere tausend Frauen gingen deshalb Freitag und Samstag in zahlreichen Städten Mexikos gegen die Publikation der Bilder Escamillas und die zunehmenden Feminizide auf die Straße.
In Mexiko-Stadt zogen die Demonstrantinnen zur Redaktion der Boulevardzeitung La Prensa, forderten eine Entschuldigung und demolierten Auslieferungsfahrzeuge des Blattes. Vor dem Kunstpalast Bellas Artes stellten sie ein großes, rosafarbenes Kreuz mit Blumen und Bildern der Ermordeten auf. Vermummte sprühten Parolen wie „Gerechtigkeit für Ingrid“ und „Keine weitere Ermordete mehr“.
Protest gegen López Obrador
Polizistinnen – die Stadtregierung hatte versprochen, nur weibliche Beamte einzusetzen – gingen massiv mit Pfefferspray gegen die Frauen vor. Die Leiterin der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt, Nashieli Ramírez, sprach zudem von einem exzessiven Gebrauch von Tränengas, das den Aktivistinnen direkt ins Gesicht gesprüht worden sei.
Für die linke Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum sind solche Vorwürfe heikel. Feministische Gruppen und ihre Stadtregierung hatten sich in den letzten Monaten mühsam angenähert, nachdem Sicherheitskräfte vorher scharf gegen militante Demonstrantinnen vorgegangen waren. „Wir hatten festgelegt, dass es keine Repression geben wird, wir uns aber auch nicht provozieren lassen“, rechtfertigte Sheinbaum von der Morena-Partei am Samstag die Vorwürfe von Ramírez.
Tags zuvor waren Feministinnen und Angehörige vor den Nationalpalast gezogen, um gegen den [1][mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador], ebenfalls Morena, zu protestieren.
Nach dem Tod Escamillas hatte sich der Staatschef vor Journalisten über die vielen Fragen zu Feminiziden beschwert. „Es ist doch klar, dass die Medien diese Angelegenheit sehr manipulieren“ erklärte er. Später entschuldigte er sich, dennoch forderten die Aktivistinnen „Weg mit Amlo“, wie der Präsident genannt wird. Einige legten Feuer am Tor des Regierungsgebäudes.
Grenzstadt mit traurigem Rekord
Immer wieder kündigt López Obrador ein konsequentes Vorgehen gegen die Täter an. Doch die Zahl der Feminizide hat unter seiner Regierung noch zugenommen. Derzeit ist sie doppelt so hoch wie 2015. [2][Allein in Mexiko-Stadt wurden vergangenes Jahr 68 Frauen] aufgrund ihres Geschlechts ermordet, in Ciudad Juárez waren es 180.
[3][Die Grenzstadt zu den USA] hat bereits in den Neunzigerjahren wegen der vielen Feminizide traurige Berühmtheit erlangt. Vor wenigen Wochen sorgte sie erneut für schockierende Nachrichten. Mitte Januar wurde dort die Künstlerin und Aktivistin Isabel Canabillas erschossen. Die 26-Jährige hatte sich unter anderem für ein Ende der Frauenmorde eingesetzt. Freundinnen und Mitstreiter kämpfen seither für die Aufklärung des Falls.
Auch an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) in der Hauptstadt wehren sich Studentinnen mit Aufsehen erregenden Protesten gegen Feminizide und sexuelle Übergriffe. Seit im Mai 2017 die Studentin Lesvy Berlín auf dem Universitätsgelände von ihrem Freund ermordet wurde, kommt die Hochschule nicht zur Ruhe. Seit November halten Feministinnen die Philosophische und Geisteswissenschaftliche Fakultät besetzt.
Sie fordern ein Ende der sexuellen Übergriffe durch Dozenten und administratives Personal. Studierende 16 weiterer UNAM-Institute und an die Hochschule angebundener Einrichtungen schlossen sich mit Streiks an.
Reform ohne Sanktionen
Nachdem sich die Universitätsleitung vergangenen Mittwoch bereit erklärte, geschlechtsspezifische Gewalt in ihren Statuten als „besonders gravierende Rechtssache“ festzuschreiben, hoben Studierende einiger Institutionen ihren Streik auf. Die Mehrheit hält jedoch an ihren Aktionen fest, da mit der Reform keine Sanktionen gegen die Täter verbunden seien.
Auch im UNAM-Konflikt sorgte Präsident López Obrador für Empörung. Hinter der Bewegung steckten dunkle Mächte, die andere Interessen verfolgten, erklärte er. Dafür spräche, dass viele Feministinnen vermummt auftreten würden. Ein Vorwurf, den die UNAM-Professorin Sayuri Herrera nicht nachvollziehen kann: „Wenn Frauen die Gewalt anklagen, sind sie sehr gefährdet. Es gibt Fälle, in denen sie oder auch Opferangehörige selbst gewaltsam angegriffen wurden.“
16 Feb 2020
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