taz.de -- Die Westdeutschen und die Systemfrage: Kampfbegriff Sozialismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg lehnten die Deutschen den ungebremsten Kapitalismus ab – wie nun Juso-Chef Kevin Kühnert. Das verflog jedoch bald.
Bild: Als es nur aufwärts zu gehen schien: Familie in den 60ern mit Volkswagen 1200 Berlina

BERLIN taz | Juso-Chef Kevin Kühnert betritt kein Neuland, [1][wenn er überlegt, ob man Großkonzerne wie BMW verstaatlichen sollte]. Nach dem Zweiten Weltkrieg war fast jeder Westdeutsche überzeugt, dass der ungebremste Kapitalismus versagt hatte. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 war ein Schock gewesen, und außerdem hatten sich die meisten Unternehmer diskreditiert, weil sie willig mit dem NS-Staat zusammengearbeitet hatten.

Die Suche nach Alternativen war derart verbreitet, dass sogar die CDU davon erfasst wurde. In ihrem Ahlener Programm von 1947 hieß es: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Die CDU forderte daher eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“, in der „das Genossenschaftswesen (…) mit aller Kraft auszubauen“ sei. Kartelle und Monopole sollten bekämpft und die Montanindustrie verstaatlicht werden.

Die Begeisterung fürs Kollektive verflog allerdings früh, weil man mit Schrecken verfolgte, was sich in der sowjetischen Besatzungszone abspielte, die rigoros stalinisiert wurde. In Ostdeutschland entstand eine zentrale Planwirtschaft, die keinen Markt mehr kannte. Stattdessen wurde eine ökonomische Diktatur errichtet, die Preise und Produktmengen staatlich vorgab.

Die CDU setzte daher ab 1948 ganz auf die „soziale Marktwirtschaft“. Dieser neue Name verbrämte ein altes Konzept: Die Union knüpfte bruchlos an die Tradition der Weimarer Republik an – sowohl organisatorisch wie personell. Die Großkonzerne blieben privat, und die altbekannten Manager hatten wieder das Sagen.

„Rot lackierte Faschisten“

Die SPD hingegen versuchte es mit einem Mittelkurs. Auch sie lehnte die SED-Diktatur vehement ab und bezeichnete die ostdeutschen Kommunisten als „rot lackierte Faschisten“. Aber gleichzeitig blieb die SPD dabei, dass sie zentrale Schlüsselindustrien verstaatlichen wollte. SPD-Chef Kurt Schumacher hatte zehn Jahre lang in Konzentrationslagern gelitten und war überzeugt, dass sich eine erneute Diktatur nur verhindern ließe, wenn die Großkonzerne entmachtet würden. Die SPD wollte also nicht die Planwirtschaft des Ostens, doch diese Feinheiten waren vielen Wählern nicht zu vermitteln. Zur Verwirrung trug bei, dass beide Konzepte „Sozialismus“ hießen und sich auf Karl Marx beriefen.

Diese Grundsatzdebatten verloren bald an Brisanz, weil die Wirtschaft boomte und Wachstumsraten von fünf Prozent pro Jahr und Kopf erreichte. Willig glaubte das Wählervolk an einen neuen Mythos: Die „soziale Marktwirtschaft“ habe ein „Wirtschaftswunder“ erzeugt, das in der Welt einzigartig sei.

In ihrer Nabelschau entging den Westdeutschen, dass fast alle europäischen Staaten ein Wirtschaftswunder erlebten. Völlig unerheblich war übrigens, ob die Länder an die unbeschränkte Marktwirtschaft glaubten oder Schlüsselindustrien verstaatlicht hatten. Der Aufschwung setzte überall ein.

Interessant ist der Vergleich zu Frankreich. Dort regierte der erzkonservative Ex-General De Gaulle zusammen mit Kommunisten, Sozialisten und Christdemokraten. Dieser bunte Haufen verstaatlichte zunächst einmal die Renault-Werke, zahlreiche Kohlegruben, die Pariser Verkehrsbetriebe, die Handelsmarine, die Luftfahrtgesellschaften, die Elektrizitätswerke, die Banque de France, die vier größten Depotbanken und einige Versicherungen. Doch dabei beließ man es nicht: Die gesamte Wirtschaft, auch der Privatsektor, wurde staatlich gesteuert. Eine Kommission lenkte die Investitionen und gab Entwicklungsziele vor. Die Losung hieß „Planification“, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Zwischen 1950 und 1973 kam Frankreich auf ein Wachstum von 4,1 Prozent pro Jahr und Kopf.

Schwerer Fehler 2008

Der Staat störte nicht, wie sich auch in Österreich zeigte: Nach dem Krieg arbeiteten dort 31 Prozent aller Erwerbstätigen beim Staat oder in öffentlichen Betrieben. Trotzdem wuchs die Wirtschaft genauso schnell wie in der Bundesrepublik, was keinen Deutschen wundern sollte. Denn auch hierzulande war damals ein staatliches Unternehmen besonders innovativ: VW.

Die Erfolge der öffentlichen Betriebe gerieten jedoch in Vergessenheit, so dass es in der Finanzkrise ab 2008 zu einem schweren Fehler kam: Die Commerzbank wurde nicht verstaatlicht, obwohl sie 18,2 Milliarden Euro vom Steuerzahler erhielt. Zu groß war die Angst bei Union und SPD, als „Sozialisten“ abgekanzelt zu werden. Also kam es zu einer Art verkehrtem Sozialismus: Die Gewinne wurden privatisiert – und die Verluste sozialisiert.

Doch ist es bekanntlich nie zu spät, aus der Geschichte zu lernen. Commerzbank und Deutsche Bank dürften wieder in Schieflage geraten, sobald es zu einer Rezession kommt. Dann wäre Kevin Kühnert gefragt. Statt sich auf BWM zu kaprizieren, sollte er sich jetzt schon in [2][das Thema Großbanken] einarbeiten.

2 May 2019

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[1] /Kevin-Kuehnert-in-der-Kritik/!5588702
[2] /Deutsche-Bank-und-Commerzbank/!5585250

AUTOREN

Ulrike Herrmann

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