taz.de -- Essayband von Siri Hustvedt: Der Blick der Männer auf Frauen

Siri Hustvedt analysiert in ihrem neuen Essayband, wie Männer Weiblichkeit konstruieren. Auch an Susan Sonntags Pornobegriff arbeitet sie sich ab.
Bild: Eine Frau, die auf Männer schaut, die auf Frauen schauen: Romanautorin und Feministin Siri Hustvedt

Dass Männer auf Frauen schauen, sie malen, beschreiben und analysieren oder als Hysterikerinnen diffamieren, ist so tief in unserer Kultur verwurzelt, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Da kann eine Frau, die auf Männer schaut, die auf Frauen schauen, nicht schaden. Siri Hustvedt, Autorin von Romanen wie „Die gleißende Welt“, tut es in ihrem neuen Essayband.

Dessen erster Teil bietet den klassischen Inhalt der geisteswissenschaftlichen Essaysammlung: Betrachtungen zu Künstlern, Wahrnehmung und Repräsentation. Und vor allem von Männern, die auf Körper schauen, unter anderem Robert Mapplethorpe, Anselm Kiefer, Wim Wenders und Picasso. Wie männliche Künstler Weiblichkeit konstruieren, um vor dem imaginierten Hintergrund dieser Weiblichkeit ihre eigene Männlichkeit herauszupräparieren, das analysiert Hustvedt auf wunderbare Art.

Man ahnt es bereits, und es wird im Essay über Susan Sontags Betrachtungen zu Pornografie noch deutlicher: Unsichtbare Referenz ist die große amerikanische Essayistin, Susan Sontag eben. Monolithische Figuren muss man stürzen. So weist Hustvedt Sontags mit intellektuellem Dünkel durchsetzten Zugang zur Pornografie, der zu ihrem Kern nicht vordringe, weil er in ihr nur eine niedere ästhetische Form erkenne, zurück.

Frauen sind keine Konkurrenz

Ein besonders schöner, augenöffnender Essay – jedenfalls in Bezug darauf, wie Männer auf Frauen schauen – ist „Keine Konkurrenz“, in dem Hustvedt eine Begegnung mit Karl Ove Knausgård schildert. Im Rahmen eines Interviews fragt ihn Hustvedt, warum in seinem gigantischen Werk „Kämpfen“, das hunderte Referenzen auf Autoren enthält, nur eine Frau genannt wird: Julia Kristeva. Seine Antwort: Keine Konkurrenz. Die Antwort verfolgt sie.

Und sie kommt zu dem Schluss, dass ein männlicher Autor sich in der Konkurrenz zu anderen männlichen Autoren beweist, beweisen muss. Interessanterweise sei Knausgård ein Autor des Gefühls. Er nimmt also keine prototypische männliche Haltung ein (wonach der Mann kalter, rationaler Verstand ist). Aber womöglich ist das der Grund, warum Knausgård sich von den Brontës oder Woolfs dieser Welt abgrenzen muss – wäre er sonst nicht eine von ihnen?

Warum eine Geschichte und nicht die andere? So lautet die Frage eines weiteren Essays. Hustvedt stellt fest, dass es etwas Sublimes gebe, das eine Geschichte richtig oder eben falsch mache. Man spüre, wenn sich etwas zwischen das Unbewusste, das eine bestimmte Geschichte produziert, und das Schreiben schiebe: eine bewusste Barriere, die dazu führt, dass die falsche Geschichte erzählt wird. Ein Autor, der an seiner Geschichte scheitert, scheitert nicht am technischen Vermögen: Er dringe nur nicht zur eigentlichen Geschichte vor.

Essays über Neurologie, Psychiatrie und Geist

Noch spannender, vielleicht für viele Leserinnen auch überraschender, sind Hustvedts Essays über Neurologie, Psychiatrie und Geist im zweiten Teil der Sammlung. Hustvedt publiziert seit Jahren in Blättern zur Neurologie, wo ihre Texte das klassische Peer-Review-Verfahren durchlaufen. Und sie unterrichtet Studenten der Neurologie. Daneben veranstaltete sie auch Schreibkurse mit Psychiatriepatienten. In beiden Fällen ist der Ausgangspunkt ihrer Arbeit das Dasein als Romanautorin, die die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringt, sich in den Kopf ihrer Figuren zu versetzen und deren Psyche zu beschreiben.

Zugleich ist es die Außenseiterin Hustvedt, die die Metaphern der Neurologie hinterfragt, die vielen Neurologen gar nicht mehr bewusst sind: Hustvedt kritisiert die Prägung der Neurologie auf die Vorstellung vom Gehirn als Computer. Bereits das 19. Jahrhundert kannte Automatentheorien des Körpers, das 20. Jahrhundert, massiv geprägt von der frühen Forschung zu Künstlicher Intelligenz, inkorporierte die Vorstellung, dass das Gehirn lediglich ein besonders komplexer, gewissermaßen lernfähiger Computer sei.

Denken und Kreativität, Vergessen und Erinnern

Der Schlüssel zu Denken, Kreativität und Selbst aber ist die Neuroplastizität des Hirns. Vergessen, Verdrängen und Erinnern sind nicht allein in binären Zuständen, im An und Aus der Nervenzellen angelegt. Fortlaufend werden Netzwerkstrukturen umgebaut und aktualisiert. Auch ein Quantencomputer kann sie nicht simulieren.

Hustvedt erteilt dem cartesischen Denken, das zwischen Körper und Geist trennt, wobei der Geist lediglich die Software ist, die der Hardware eingespeichert ist und ebenso gut in anderer Hardware reproduziert werden könnte, eine Absage und verweist auf die Lücken der Intelligenzforschung. Denkende, sich ihrer selbst bewusste Maschinen werden wir wohl nicht erleben, auch wenn die Wissenschaft hierfür immer wieder neue Daten festlegt (jüngst das Jahr 2039, was erstaunlich konkret klingt).

Hustvedt dagegen fokussiert auf die Intersubjektivität als Schlüssel zur Bewusstseinsforschung und ist dabei, ganz erstaunlich, sehr nahe bei Friedrich Nietzsche (vielleicht eher unbewusst). Schon bei Nietzsche nämlich findet sich die Idee, dass Bewusstsein nur als kollektiver Anpassungsprozess zu verstehen sei. Das Bewusstsein, so die Pointe, ist relevant für die Gruppe, nicht für den Einzelnen.

Spiegelneuronen und Mitempfinden

Hustvedt wiederum erinnert an die faszinierende Entdeckung der Spiegelneuronen: Wenn ein Mensch seine Hand zum Mund führt, werden Neuronen in seinem Gehirn aktiviert. Im Gehirn des beobachtenden Gegenübers kommt es zu einem spiegelbildlichen Abbild der Neuronenaktivität. Spiegelneuronen könnten der Schlüssel zum Verständnis des Mitempfindens sein. Sind sie es, die Intersubjektivität und die Etablierung des „Du“ in uns ermöglichen?

Hustvedts Essays zeigen, was die Naturwissenschaft verloren hat, als sie das geisteswissenschaftliche Denken strikt vom naturwissenschaftlichen trennte: Da wir alle, unweigerlich, in Metaphern denken, müssen wir uns der untergründig wirkenden Denkmetaphern bewusst sein, um unser eigenes Denken hinterfragen zu können. Die Naturwissenschaft ist blind geworden ausgerechnet für diesen Teil des Denkens. So entgehen der Naturwissenschaft derzeit die Antworten auf die wesentliche Frage, wie das Du ins Ich und das Selbst zum Wissen über das Ich gelangt.

27 Mar 2019

AUTOREN

Marlen Hobrack

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