taz.de -- Prager Frühling vor 50 Jahren: Wunden, die nicht verheilen wollen
Viele jungen Tschechen wissen nicht, was sich hinter dem „Prager Frühling“ verbirgt. An der Staatsspitze tummeln sich indes Mitläufer von damals.
Prag taz | Nein, der Prager Frühling war kein brutal unterdrückter Volksaufstand, keine antikommunistische Revolte. Der Prager Frühling, das war das Tauwetter, das zwischen dem Ende des Stalinismus und der Breschnew-Doktrin lag. Damals glaubten Tschechen und Slowaken, einen eigenen Weg zum Sozialismus gehen zu dürfen.
Die Tschechoslowakei war durchaus ein „westliches“ Land, als es 1945 durch die zweite europäische Nachkriegsordnung nach Osten verschoben wurde: Es war ein gebeutelter, aber durchaus moderner, hochindustrialisierter und innovativer Staat, der auf demokratischen und wirtschaftlich liberalen Grundpfeilern stand und der im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Alliierten gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatte.
Schon nach dem zweiten Jahresplan 1962 war klar, dass der dritte kläglich scheitern würde und die zentralisierte Planwirtschaft das Problem war. Wäre es nur bei den wirtschaftlichen Reformen des Ökonomen Ota Šik geblieben, hätte der Frühling vor 50 Jahren möglicherweise nicht so abrupt geendet.
Doch der Prager Frühling war mehr als der Versuch eines wirtschaftlich hochentwickelten Landes, sich innerhalb der ihm gesetzten Grenzen zu emanzipieren. Waren Šiks Wirtschaftsreformen der frühen sechziger Jahre eine notwendige Reaktion auf die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Rückschritte, die sein Land seit 1945 erfahren musste, wurden sie schnell zur ersten lauen Frühlingsluft, die vielen das zu sein versprach, was sie seit Jahrzehnten der erst braunen dann roten Diktatur herbeisehnten: Freiheit. „Wir versuchten, die Freiheit auszudehnen und manchmal ist die Befreiung ein langer Prozess“, erklärte Eduard Goldstücker, als er und die Autorin vor 20 Jahren in seiner kleinen Wohnung im Prager Stadtteil Barrandov über den Prager Frühling sprachen.
Goldstücker gilt neben Ota Šik als einer der weiteren Frühlingsboten von damals. Die Kafka-Konferenz, die der Germanist im Jahre 1963 auf Schloss Liblice in der Nähe von Prag organisierte, zählt bis heute zu den Initialzündungen für den Demokratisierungsprozess – oder als „Anfang der Konterrevolution“, wie die regimetreue Presse hetzte. „Einzigartig“ in der Geschichte des Kommunismus sei der Prager Frühling gewesen, davon war Goldstücker bis zu seinem Tod im Oktober 2000 überzeugt, denn, „hier haben sich Mitglieder der herrschenden Partei das Programm der Demokratisierung zu eigen gemacht“.
Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ versprach Alexander Dubček, dessen Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei den Prager Frühling im Januar 1968 richtig zum Erblühen brachte. Dubček war ein Hoffnungsträger, der sich der Aufgabe verschrieben hatte, die Freiheiten, die sich die Tschechen und Slowaken seit der Entstalinisierung peu à peu genommen hatten, zu institutionalisieren. Die staatliche Zensurbehörde, die im März 1968 im Rahmen von Dubčeks Reformen abgeschafft wurde, hatte zu diesem Zeitpunkt nur noch auf dem Papier bestanden. An die Zensurvorgaben hatten sich die Redakteure und Autoren der staatlichen Medien schon länger nicht mehr gehalten und alternative Zeitungen bestimmten den gesellschaftlichen Diskurs.
Vor allem die Kultur der sechziger Jahre reflektierte die Hoffnung der tschechoslowakischen Gesellschaft. Literaten wie Milan Kundera und Bohumil Hrabal begannen, in ihren Werken mit Mythen der sowjetischen Befreiung aufzuräumen oder die Zeit des Stalinismus in der Tschechoslowakei mit seinen antisemitischen Schauprozessen und Straflagern kritisch zu reflektieren. Miloš Forman war ein junger, unbekannter Regisseur, als er 1967 in seinem „Feuerwehrball“ die Kleinstadtmentalität mit ihrem Mitläufertum karikierte, die unter jeder Form von Totalitarismus gedeiht und die ihn in einer Art perversen Symbiose erhält.
Die Panzer, die vor einem halben Jahrhundert das Land überrollten, zerstörten nicht nur die Blüten des Prager Frühlings. Sie walzten die Hoffnung einer ganzen Generation nieder. Die Gräben, die sie aufgerissen haben, sind gesellschaftliche Wunden, die bis heute nicht geheilt sind. Sie brachten den Tschechen und Slowaken die bittere Erkenntnis, dass wiederum – wie schon 1938 in München – ohne sie über ihr Schicksal entschieden wurde. Sie wollten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz – und bekamen die hässliche Fratze des Bolschewismus.
Märchenfilme und innere Emigration
Die Niederschlagung des Prager Frühlings brachte den Herbst der „Normalisierung“, eine Zeit des grauen Realsozialismus, in der jeder seines Nächsten Feind wurde. Die fröhlich, poppigen Melodien der sechziger Jahre wichen schweren, melancholischen Balladen. Die bissigen Gesellschaftssatiren wurden von träumerischen Märchenfilmen ersetzt, statt hitziger Diskussionen widmete man sich lieber der inneren Emigration.
Wer das nicht aushielt, ging. Nach dem Einmarsch und in den siebziger und achtziger Jahren emigrierten geschätzt 250.000 Tschechen und Slowaken in den Westen. „Die Säuberungen und die systematische Vertreibung der Eliten haben zu einer schrecklichen Provinzialisierung des Landes geführt“, beklagte der Schriftsteller und Zeitzeuge Jiří Gruša (1938–2011) die Auswirkungen von Einmarsch und Besatzung. „Geprägt von Ängstlichkeit, mangelndem Selbstbewusstsein und Argwohn gegenüber allem Fremden“, fand Gruša sein Land vor, als er, nachdem er 1981 ausgebürgert worden war, Anfang der neunziger Jahre wieder zurückkehrte.
Mit der Aufarbeitung der „Ereignisse von 1968“, wie der Einmarsch gerne euphemistisch genannt wird, tun sich die Tschechen bis zum heutigen Tag schwer. Während nicht einmal 50 Prozent der Tschechinnen und Tschechen zwischen 15 und 24 Jahren, wissen, was sich hinter dem Begriff „Prager Frühling“ überhaupt verbirgt, zeigt ein Blick auf die gewählte politische Elite vor allem eines: Das Mitläufertum von damals hat sich gelohnt.
Andrej Babiš: vom Stasi-Spitzel zum Ministerpräsidenten
Der amtierende Ministerpräsident Andrej Babiš hat in den achtziger Jahren als IM Bureš seine Kollegen im Auftrag der tschechoslowakischen Staatssicherheit bespitzelt. Dennoch gilt er am 50. Jahrestag des Einmarsches als beliebtester Politiker des Landes.
Dass ihr Regierungschef unter Verdacht steht, sich umgerechnet knapp zwei Millionen Euro an EU-Fördergeldern erschlichen zu haben, quittieren viele Tschechen mit einem vielsagendem Grinsen: „Wer nicht den Staat beklaut, beklaut die eigene Familie“, lautete das Motto der Jahre der Normalisierung zwischen Prager Frühling und der Samtenen Revolution.
Die ist inzwischen gescheitert: Babiš’ Verteidigungsminister Lubomír Metnar ist stolz darauf, einst bei den tschechoslowakischen Grenztruppen im Kalten Krieg an vorderster Front gedient zu haben. Dass beide überhaupt an der Macht sind, verdanken sie neben knapp 30 Prozent der Wähler auch der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, die sich bis heute stolz auf das Erbe derer beruft, die die Sowjetpanzer 1968 zur „brüderlichen Hilfe“ gerufen haben und die heute die Regierung ihres einstigen Genossen Babiš brav toleriert.
Besonders ohrenbetäubend wirkt daher auch das Schweigen von Staatspräsident Miloš Zeman, der im vergangenen Januar in seinem Amt bestätigt wurde und sich nicht zum 50. Jahrestags des Einmarsches der Warschauer Pakt-Truppen äußern will. Dafür hat Zeman jedoch auf andere Art ein besonders symbolträchtiges Zeichen gesetzt: Wenn russische Soldaten im kommenden Jahr singend und tanzend als Alexandrow-Ensemble die Eventkultur der Tschechischen Republik bereichern, dürfen sie sich der Schirmherrschaft Zemans sicher sein.
20 Aug 2018
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