taz.de -- Gastkommentar Autor*innen zu Europa: Europa ist heimatlos

Zehn Schriftsteller*innen darüber, dass Europa zuerst da war, vor allen Nationalstaaten und Wirtschaftsräumen, und unabschaffbar ist.
Bild: Europa gehört niemandem, nur sich selbst

Ich war vorher da.

Ich war hier vor Belgien.

Ich war hier vor Österreich.

Ich war hier vor Dänemark, vor Kroatien, vor Deutschland, vor Frankreich, vor Italien, vor Spanien, vor Griechenland, vor Rumänien, vor Polen.

Ich war hier vor Schengen.

Ich war hier vor lesbisch.

Ich war hier vor weiß.

Ich war hier vor cis.

Ich war hier vor schwarz.

Ich wusste nicht, dass ich Europa bin, bevor ich Europa war.

Ich war Europa, bevor die Europäer kamen.

Wir schaffen Europa, wo immer das auch gewesen sein wird.

Wir haben schon an Europa geglaubt, bevor es versprochen wurde.

Wir waren vorher da.

Wir erinnern uns an ein Europa, das keine Grenzen gekannt haben wird.

Wir erinnern uns daran, auch einmal angekommen zu sein.

Man muss noch nicht einmal fortgegangen sein, um tausend Grenzen gesehen zu haben.

Ich bin hundert Sprachen und Dialekte.

Wir sind mehr als ein Wirtschaftsraum, mehr als ein Standortvorteil.

Der Kirschgarten meiner Oma: Europa.

Der Kinderwagen in Bukarest: Europa.

Die verregnete Straße in Istanbul: Europa.

Europa ist ein Problem, ein heftiges – und es wird keines gewesen sein.

Wir werden nie europäisch gewesen sein.

Europa wird nicht nur ein weißes Projekt gewesen sein, es wird sich nicht nur geträumt haben.

Europa ist heimatlos.

Europa ist enteignet.

Europa hat hundert Wurzeln, tausend Abzweigungen, zehntausend Möglichkeiten.

Europa existiert nur in Übersetzungen, in abertausend Auflagen und ebenso vielen Versionen.

Schluss mit den Achsen.

Schluss mit dem Mittelmeer.

Schluss mit den Schlagbäumen.

Schluss mit den Todesstreifen.

Keine Zukunft ohne Europa, ohne Europa keine Zukunft.

5 Jul 2018

AUTOREN

Nora Bossong

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