taz.de -- Kolumne Nachbarn: Wenn es keine Worte mehr gibt

Wie über das schreiben, worüber man schreiben muss, wenn der Schrecken zu groß wird? Das fragt sich eine Syrerin, der das Unheil im Nacken sitzt.
Bild: Der Krieg ist in Ost-Ghouta stets präsent

Seit drei Wochen versuche ich, diesen Artikel zu schreiben. Zuerst wollte ich über Kälte, Wärme und Liebe schreiben. Wie aber soll ich über derartige Themen schreiben, wenn meine Familie im syrischen Afrin Zielscheibe von türkischen Bombern und Erdoğans Söldnern ist?

Ich hatte gerade damit begonnen, über Afrin zu schreiben, [1][als die Angriffe des syrischen Regimes und seiner Verbündeten auf Ost-Ghouta begannen.] Nachrichten und soziale Medien sind voller Bilder von Massakern und von Zerstörung. Worüber soll ich nun schreiben? Ich bin eine Syrerin, der das Unheil im Nacken sitzt. Fassungslosigkeit befällt die Mitarbeiter der internationalen Unesco-Organisation, weil sie nicht mehr wissen, wie sie das Ausmaß der Katastrophe in Worte fassen sollen. Das ist wohl der Grund, warum sie sich auf eine einzeilige Verurteilung beschränkt haben.

Irgendwann habe ich mich entschieden, über einen Mann zu schreiben, der seine Frau niedergestochen hat, und über seinen traumatisierten Sohn. An diesem Tag konnte ich nicht schlafen. Wer wird den Sohn in den Arm nehmen und ihn davon überzeugen, dass das Leben doch nicht so schlecht ist? Er war dabei, als sein Vater seine Mutter tötete. Das Entsetzen, das sich in den Augen des Kindes abzeichnet, hindert mich am Schreiben.

Mein Traum

In einem Telefongespräch mit meiner Freundin in Damaskus erzählte ich ihr, dass ich einen Artikel schreiben muss und nicht weiß, welches Thema ich wählen soll. Ohne zu zögern schlug sie mir vor, dass ich über den Traum schreiben sollte, durch den ich an diesem Morgen wach wurde und von dem ich ihr zuvor erzählt hatte.

Eine gute Idee! Mich packte der Eifer. Sobald das Gespräch zu Ende war, setzte ich mich an meinen Computer, um meinen Traum niederzuschreiben. Ich träumte von einem Haus. Ein großes, schönes Haus. Ich trug es auf meinem Rücken, der gekrümmt war, während ich in den Straßen von Damaskus umherlief. Die Gebäude um mich herum waren zerstört. Zwischen den Trümmern fand ich ein sauberes Plätzchen, wo ich mein Haus absetzte. Plötzlich hörte ich auf zu schreiben. Die Bilder der Zerstörung in meiner Erinnerung schluckten all meine Gedanken und den restlichen Traum.

[2][Dann reiste eine Delegation der AfD nach Syrien.] In den Straßen von Damaskus, die ich so sehr liebe und die mir nun verwehrt sind, prüfen sie meine Stadt. Von hier aus haben sie die Nachricht vom „Frieden“ in der Diktatur verbreitet.

Es scheint mir, dass meine Wut über das, was passiert ist, am besten durch eine Erklärung komplett ohne Worte ausgedrückt werden kann. Denn nach jeder schrecklichen Nachricht fand ich mich in einem leeren, kalten und abgedunkelten Zimmer wieder, schreiend – mit einem Echo, das hallte: Es reicht!

12 Mar 2018

LINKS

[1] /In-der-syrischen-Ost-Ghouta/!5489692
[2] /Mission-von-AfD-Abgeordneten-in-Syrien/!5489956

AUTOREN

Kefah Ali Deeb

TAGS

Afrin
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Nachbarn
Schwerpunkt Syrien
Nachbarn
Nachbarn
Ost-Ghouta
Schwerpunkt Syrien
Türkei
Ost-Ghouta
Ost-Ghouta
Grimms Märchen
Schwerpunkt Syrien
Nachbarn

ARTIKEL ZUM THEMA

Kolumne Nachbarn: Freiheit für politische Gefangene

Jüngst erinnerten Syrer in Berlin an ihre Liebsten, die in Assads Foltergefängnissen verschollen sind. Auch ich habe einige Menschen dort verloren.

Kolumne Nachbarn: Damit ich nicht vergesse

Jeden Morgen schaue ich mich im Spiegel an und frage mich, ob ich wirklich lebe. Unsere Lebensjahre wurden von Kugeln getroffen.

Kolumne Nachbarn: Der Tod ist ein Dummkopf

Der Freund war immer mutig gewesen: im Kugelhagel der syrischen Regierungstruppen, im Gefängnis Assads und im stürmischen Meer.

Kolumne Nachbarn: An einem sonnigen Tag

In der Fremde treffen Vertriebene zusammen. Wir unterhalten uns über Syrien und erinnern uns an den kurzen Winter und die warme Sonne.

Kolumne Nachbarn: Warten auf Grün

An der Ampel streitet sich ein älteres syrisches Ehepaar. Sie stört sich daran, dass er raucht. Er stört sich daran, dass sie schnarcht. Fast wie zuhause.

Lage in Syrien: Ost-Ghouta fällt – mit einer Ausnahme

Douma ist die größte Stadt der Rebellenenklave Syriens. Die Rebellen dort wollen als einzige nicht abziehen und scheinen mit Russland zu verhandeln.

Freiwillige Ausreise nach Syrien: Zurück in den Krieg

Im Gegensatz zur Internationalen Organisation für Migration unterstützt Niedersachsens Landesregierung die freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien.

Erdoğans Truppen in Syrien: Türkei kesselt Afrin ein

Die syrisch-kurdische Stadt wird von türkischen Truppen belagert. Die Einwohner fürchten einen Häuserkampf. Tausende sind auf der Flucht.

Kommentar Ost-Ghouta: Etappensieg für Assad

Syrischen Truppen stehen offenbar kurz vor der Eroberung Ost-Ghoutas. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht.

Belagerung von Ost-Ghouta: Das Rebellengebiet schrumpft

Die syrische Armee weitet ihre Angriffe auf die Region bei Damaskus aus. Dort leben etwa 400.000 Menschen. Die Rebellen wollen nicht aufgeben.

Kolumne Nachbarn: Unsere Bilder, eure Welt

Als Kinder und Jugendliche faszinierten uns Geschichten, Filme und Promis aus Europa bis ins Detail. Von uns wusste der Westen hingegen nichts.

Kolumne Nachbarn: Liebe, Musik und Tanz

Ein Lied lässt die Freundin sorglos tanzen. Dasselbe Lied erinnert unsere Kolumnistin an Syrien – und an das Wichtigste im Leben.

Kolumne Nachbarn: Das Mädchen mit den braunen Augen

Plötzlich ist im Fernsehen das Kind, das ich einst in der Straße des Todes traf. Tausende Kilometer bin ich geflohen, doch vergessen kann ich nicht.