taz.de -- Ein einfacher Bürger: Der Gerechte aus Rendsburg
Israel zeichnet mit Erich Mahrt erstmals einen Schleswig-Holsteiner als Gerechten unter den Völkern aus: Der Arbeitersohn rettete seine jüdische Verlobte vor den Nazis.
RENDSBURG taz| Er, der Arbeitersohn. Sie, das Mädchen aus gutem Hause. Es war im Deutschland der 1930er-Jahre nicht sehr wahrscheinlich, dass Erich Mahrt und Wally Gortatowski einander kennenlernten, obwohl beide in der Kleinstadt Rendsburg lebten. Dass der junge Elektriker und die Tochter eines jüdischen Textilwarenhändlers ein Paar wurden, rettete Wally das Leben. Denn Erich versteckte seine Verlobte während der NS-Zeit. Dafür erhielt er posthum von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als erster Schleswig-Holsteiner den Titel „Gerechter unter den Völkern“.
Das Jüdische Museum Rendsburg erinnert mit einer Veranstaltung am 9. November an das Schicksal des Paares. Erich Mahrt und seine Freundin erkannten das Unheil der NS-Zeit früh. Als Mitglied der Kommunistischen Partei kam Erich kurze Zeit in Haft, auch die Familie Gortatowski fühlte bald Repressalien. 1938 zog Wally nach Berlin, wo bereits Familienmitglieder lebten. „Sie erhofften sich von der Anonymität der Großstadt besseren Schutz“, sagt Frauke Dettmer.
Die Historikerin und langjährige Leiterin des Jüdischen Museums Rendsburg erforschte die Geschichte Erich Mahrts und beantragte 2006 seine Anerkennung als „Gerechter unter den Völkern“. Mit dem Titel ehrt der Staat Israel Menschen, die sich während der NS-Zeit unter Lebensgefahr für die Rettung von Juden einsetzten. Weltweit gibt es etwa 26.000 „Gerechte“, bundesweit tragen rund 600 Menschen den Titel.
Der Umzug des Paares nach Berlin erwies sich nur teilweise als richtig: Anfang der 1940er-Jahre rollten fast täglich Transporte in die Vernichtungslager. Erich, der Wally nachgezogen war und in einem Siemens-Werk arbeitete, mietete im Juli 1942 eine Hütte in einer Laubenkolonie an. Im Dezember bekam die damals 32-jährige Wally die Aufforderung, sich für die Deportation zu melden – nach Auschwitz. In der gleichen Nacht zog sie ins Versteck.
Zweieinhalb Jahre lebte die junge Frau in der beengten Hütte. Kälte im Winter, stickige Luft im Sommer. Nie ein Geräusch machen, bei jedem Schritt vor dem Gartenzaun zittern. „Ich habe in ständiger Angst gelebt“, schrieb Wally Gortatowski nach Kriegsende.
Furcht, Langeweile und Hunger bestimmten ihren Alltag. Denn als die Lebensmittel knapp wurden, musste Erich seine Freundin von seiner Ration mitversorgen. Hilfe gab es von den kommunistischen Genossen in Rendsburg. „Das Risiko für Erich war gewaltig“, sagt Dettmer.
„Jeder Einkauf konnte ihn verraten.“ So las die junge Frau viel. „Was, wenn jemand gefragt hätte, warum ein Elektriker ,Frauenliteratur’ kauft oder leiht?“ Für die Versteckte hätte Erichs Enttarnung den Tod bedeutet – sie hatte eine Pistole, damit sie den Schergen nicht lebendig in die Hände fiel. „Für die meisten untergetauchten Juden gab es einen ganzen Unterstützerkreis“, berichtet Dettmer. „Hier war es nur eine Person.“
Wally Gortatowski gehörte zu den etwa 1.000 von rund 6.000 versteckten Juden in Berlin, die den Zweiten Weltkrieg überlebten. Das Paar heiratete nach Kriegsende und bekam einen Sohn. Die Familie zog nach Argentinien, wo bereits ein Bruder Wallys lebte – der Rest der Familie war gestorben.
1976 kehrte das Paar nach Rendsburg zurück. Drei Jahre später nahm Wally sich das Leben. „Für Erich ein harter Schlag, schließlich hat er sie zeitlebens beschützen wollen“, sagt Frauke Dettmer. 1988 starb Erich Mahrt mit 78 Jahren.
„Er hat sich nie mit seiner Tat gebrüstet, im Gegenteil – er sprach wenig darüber“, sagt die Historikerin Dettmer. Neben der Gedenkveranstaltung am Donnerstag, den 9. November, finden im November Lesungen, Filmvorführungen und Konzerte statt. Eine Ausstellung im Museum erinnert an das Auswandererschiff „Exodus 1947“.
7 Nov 2017
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Rendsburg zeigt Schicksale von Shoah-Überlebenden, die in der Nachkriegszeit in Deutschland blieben.
Josef Königsberg musste 95 Jahre alt werden, um die Ehrung seines Retters Helmut Kleinicke zu erleben. Yad Vashem zeichnet den Mann jetzt aus.
Zwei Tage vor dem Gedenken an die Novemberpogrome der Nazis ehrt Jad Vaschem zwei Berliner, die Juden in höchster Not vor dem Tod bewahrten.
Zum Gründungsmythos des Staates Israel gehört das Auswandererschiff „Exodus“. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Rendsburg zeigt Brüche in den Heldengeschichen.
Das Jüdische Museum zeigt eine neue Dauerausstellung. „Welcome to Jerusalem“ beschäftigt sich mit dem Zentrum dreier Weltreligionen.
Eine Ausstellung in Oldenburg widmet sich Vorstellungen von einer anderen Welt. Wenn das Wohl der Menschen nicht der Grund für Umwälzungen ist, wartet der Untergang
Rudolf Gelbard überlebte die NS-Vernichtungslager, kämpft gegen das Vergessen – und die FPÖ. Jetzt löst ein Video von ihm ungezügelten Hass aus.
Das niederländische Rote Kreuz bescheinigt sich selbst einen Mangel an Mut in der NS-Zeit. Für Juden, Sinti und Roma habe es sich nicht eingesetzt.
Bei der Schau der Gurlitt-Sammlung in Bonn und Bern herrscht in Sachen Raubkunst eine klare Trennung. Die Schweiz meidet die toxischen Werke.
Anna Kloza erinnert Białystok an seine jüdischen Bewohner. Für ihr Engagement wird sie angefeindet. Sie gibt dennoch nicht auf.
In den Rechtswissenschaften treiben führende NS-Theoretiker bis heute ihr Unwesen. Eine Initiative fordert „Palandt umbennen“.
Stephan Lehnstaedt erinnert in seinem Buch „Der Kern des Holocaust“ an die Todeslager der „Aktion Reinhardt“ im deutsch besetzten Polen.
70 Jahre nach Kriegsende werden vier Frauen in Yad Vashem geehrt. Der deutsche Staat hatte ihnen zu Lebzeiten jede Anerkennung verweigert.
In Polen wird über Denkmäler gestritten, die Helfer verfolgter Juden ehren sollen. Das dominiert auch eine Historikerkonferenz.
Arno Lustiger hat mit "Rettungswiderstand" die erste große Untersuchung über die Helfer verfolgter Juden in Europa während der Nazi-Herrschaft vorgelegt.