taz.de -- Die Wahrheit: Metaphysische Lederhose
Die Verlage Suhrkamp und Insel haben eine höchst ungewöhnliche Rückrufaktion für Werke von Hermann Hesse gestartet.
So etwas hat es in der deutschen Literaturgeschichte noch nicht gegeben: Die Verlage Suhrkamp und Insel rufen sämtliche Gedichte von Hermann Hesse zurück, weil sie sich als ungenießbar erwiesen haben. „Wir raten dringend von der Lektüre dieser Verse ab“, heißt es in einer Pressemitteilung der Verlage. „Sie kann zu Geschmacksverirrung, Umnebelung, Übelkeit, Schwindelgefühlen und in Einzelfällen zu Gehirnerweichung führen. Besonders stark gefährdet sind hierdurch jugendliche Leserinnen und Leser ohne literarische Vorbildung.“ Der Kaufpreis für die Gedichtbände werde auch ohne Vorlage eines Kassenbons zurückerstattet.
Betroffen sind insgesamt etwas mehr als viertausend Gedichte des produktiven Lyrikers Hesse, der sich immer wieder gern den letzten Dingen widmete und den Anschein zu erwecken versuchte, dass er alle Welträtsel gelöst habe: „Was war mein Leben, wenn es heut soll enden? / Verträumt? Verloren? Nein, es war ein Ring / Von stillen Freuden, die mit vollen Händen / Ich nahm und weitergab und neu empfing. // Es war ein Liebesbund mit dieser Erde, / Die mich mit ihrer Schönheit tief beglückt / Und immer doch mit mächtiger Gebärde / Mein Ziel hinaus ins Ewige gerückt.“
In diesem hohen, den Klassikern Klopstock, Goethe und Schiller abgelauschten Ton trug er zahllose Plattitüden vor – poesiealbumreife Reimereien, die bereits in ihrer Entstehungszeit bemoost, verknöchert und von Runzeln überwuchert waren.
Auch an Hölderlin vergriff sich Hesse: „Freund meiner Jugend, zu dir kehr ich voll Dankbarkeit / Manchen Abend zurück, wenn im Fliedergebüsch / Des entschlummerten Gartens / Nur der rauschende Brunnen noch tönt.“
Musenküsse zuhauf
Ein Brunnen im Fliedergebüsch? Wie unpraktisch! Wer bohrte denn mitten in einem Gebüsch einen Brunnen? Hatte Hesse sich da nicht verhört? Aber nein: Er hatte vor sich hin gesponnen, wie es Dichter eben so tun, wenn sie sich von der Muse geküsst fühlen.
In Hesses Fall war der Musenkuss reine Autosuggestion. Merkwürdigerweise erlagen ihr jedoch Millionen Menschen in aller Welt, und nur selten wurde die Qualität der Gedichte in Zweifel gezogen. „Die Lyrik Hermann Hesses ist, gemessen an den Schöpfungen großer deutscher Lyriker des 20. Jahrhunderts, den Schöpfungen von Trakl, Rilke, Loerke, Brecht, Benn, bedeutungslos, ist für Kenner der Literatur indiskutabel, peinlich“, stellte Karlheinz Deschner 1957 fest, und elf Jahre danach witterte die New York Review of Books in Hesses Werken einen „leichten Geruch von metaphysischen Lederhosen“, aber die Auflagen stiegen unaufhaltsam, und der Ruhm des Literaturnobelpreisträgers Hesse wuchs von Jahr zu Jahr.
Auch Hesses Prosa bald weg?
Umso bemerkenswerter ist nun der Entschluss der Verlage, die Gedichte zurückzurufen und sie einer gründlichen Überarbeitung zu unterziehen, die sicherlich Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird – mit ungewissem Ausgang, denn von der Substanz ist nicht viel zu retten. In der Branche munkelt man sogar, dass demnächst auch Hesses Prosawerke aus dem Handel gezogen werden sollen. Vor allem die Erzählungen „Siddhartha“ und „Narziß und Goldmund“ sowie der Roman „Das Glasperlenspiel“ stehen auf einer verlagsinternen Abschussliste, die zurzeit unter Kulturjournalisten die Runde macht.
Begrüßt worden ist die Rückrufaktion vom Verband ehemaliger Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Deutsch-Leistungskursen (VTDLK). Dessen Sprecher Torsten Schneyder hat in einem Interview mit der Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft auf den „heilsamen Effekt“ verwiesen, den er sich davon verspreche: „Auch ich bin in der Schule mit Gedichten von Hesse geelendet worden. Wenn sich jetzt die Erkenntnis verbreitet, dass sie alle nichts taugen, dann geschieht das zwar sehr spät, aber vielleicht trägt es ja dazu bei, dass wir auch anderen stark überschätzten Autoren von ihrem Sockel herabhelfen können. Ich denke da vor allem an Christa Wolf, Günter Grass, Herta Müller und Uwe Tellkamp …“
Eine Stellungnahme der in Hesses baden-württembergischer Vaterstadt Calw beheimateten Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft liegt zur Stunde noch nicht vor, doch es ist davon auszugehen, dass man dort von der jüngsten Entwicklung nicht sehr erbaut ist. Aus Protest gegen die Verlagsentscheidung hat der Bad Liebenauer Hermann-Hesse-Fanclub Die Steppenwölfe e. V. unterdessen einen unbefristeten Hungerstreik angekündigt.
Und was sagt das Ausland? Aus China, Indien, Großbritannien, Schweden, Äthiopien, Malaysia und den USA ist zu vernehmen, dass man froh über das Ende des Hessekults sei. „Thank God that this farce is over“, schrieb der Romancier Philip Roth jetzt im New Yorker. „The poet Hermann Hesse was a shlub.“ Ein Wort, das sich getrost mit „Trottel“ übersetzen lässt.
6 Nov 2017
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