taz.de -- Debatte SPD und Hartz IV: Nichts übrig für die Armen

Die SPD wirbt mit sozialer Gerechtigkeit. Für Arbeitslose machen die Genossen aber kaum Angebote und bringen sich so um Wählerstimmen.
Bild: „Unsozial“ sei die SPD: Mit Hartz IV machen sich Schulz und seine Partei wenig Freunde

Der Wahltag rückt näher, und wieder einmal sieht es düster aus für die deutsche Sozialdemokratie. Vielerorts wird gerätselt, warum die SPD es trotz engagierter Wahlkampagne und einem charismatischen Kandidaten nicht schafft, sich aus dem Umfragetief zu befreien. An Schulz’ Wahlkampfthema kann es eigentlich nicht liegen. Laut einer Yougov-Umfrage vom August finden Wähler fast aller großen Parteien mehrheitlich, dass soziale Ungerechtigkeit ein sehr großes Problem in Deutschland ist – das gilt auch für Nichtwähler und Unentschlossene.

Die Wähler müssten den Sozialdemokraten also in Scharen zulaufen. Dennoch liegt die SPD laut aktuellen Umfragen bei mageren 23 Prozent. Das liegt daran, dass sie das Thema soziale Gerechtigkeit nicht glaubwürdig besetzen kann. Denn einen wichtiger Teil der Wähler lässt sie außer Acht: Arbeitslose und Abgehängte.

Sinnbildlich dafür war Schulz’ Rede am Nominierungsparteitag Ende Juni. Der SPD-Chef sprach von „den Menschen, die in unserem Land hart arbeiten“, von „Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern“. Damit machte er klar, dass er sich politisch nur an die sogenannte Mitte richtet. Eine „sozial gerechte“ Politik orientiert sich aber an den Schwächsten. In seiner fast eineinhalbstündigen Rede erwähnte Schulz weder Langzeitarbeitslose noch die fast 1,2 Millionen Hartz-IV-Aufstocker, die so wenig verdienen, dass sie trotz Arbeit nicht ohne Sozialleistungen überleben können. Nur aus vorherigen Äußerungen lässt sich Schulz’ Haltung zum Thema Hartz IV ableiten.

So befürwortet der SPD-Vorsitzende, der dem rechten Parteiflügel nahesteht, Sanktionen gegen Leistungsbezieher. „Bei den Sanktionen geht es ja nicht um Schikanen“, sagte Schulz im März. Vielmehr darum, „dass sich selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV an bestimmte Spielregeln halten und etwa verabredete Gesprächstermine einhalten“. Ansonsten umschifft er das Thema lieber. Das überrascht nicht. Es waren die Sozialdemokraten, die ab 2003 gemeinsam mit den Grünen die Hartz-Gesetze beschlossen. Sie verdammten damit einen großen Teil des SPD-Arbeitermilieus zu Armut und Perspektivlosigkeit. Bis heute lehnen die Sozialdemokraten Nachbesserungen an Hartz-IV-Sätzen, Zumutbarkeitskriterien und Meldeauflagen ab.

Keine politischen Angebote für Arbeitslose

Mit dieser harten Haltung hat die SPD ihre Kernklientel entfremdet. Ungelernte, Handwerker, Arbeiter und Geringverdiener im Dienstleistungssektor sind eigentlich klassische SPD-Wähler. Mit der Agenda 2010 wurden viele marginalisiert. Der Leiharbeitssektor wuchs, die Löhne stagnierten. Wer arbeitslos wurde, verlor schnell sein Erspartes, musste nahezu jede Arbeit annehmen – und wählte folgerichtig auch nicht mehr die Agenda-Partei SPD. 11,2 Prozentpunkte verloren die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 2009 gegenüber 2005.

Die abgewanderten Wähler kamen nicht zurück – und das ist auch nachvollziehbar. Wer täglich um das wirtschaftliche Überleben kämpfen muss, läuft sonntags nicht zur Wahlurne und macht sein Kreuz auch nicht bei der Partei, die er für die eigene Armut verantwortlich macht. Im Milieu der Abgehängten gehen der SPD die Stimmen verloren. Und die Sozialdemokraten wollen offenbar immer noch keine politischen Angebote an marginalisierte Bevölkerungsgruppen machen. Schulz’ Vorschläge eines verlängerten ALG I richten sich an jene, die noch einen Job haben.

Wer bereits in der Hartz-IV-Mühle festhängt, dem nützt der Vorstoß nichts. Die SPD verbucht den Mindestlohn als großen Erfolg – doch Langzeitarbeitslose sind in den ersten sechs Monaten nach Arbeitsaufnahme vom Mindestlohn ausgenommen. Auch die Verdoppelung des Schonvermögens für Leistungsbezieher hilft Langzeitarbeitslosen nicht, die entweder nie über Vermögen verfügten oder bereits dazu gezwungen wurden, die eigenen Ersparnisse aufzubrauchen, um überhaupt Hartz IV zu erhalten. Für Hartz-IV-Empfänger wichtige Themen werden von der SPD ignoriert. Sie wendet sich nicht dagegen, dass Alleinerziehenden das Kindergeld gestrichen wird, wenn sie Arbeitslosengeld II beziehen. Auch das diskriminierende Modell der Bedarfsgemeinschaften wird nicht hinterfragt.

Wenn die SPD also Arbeitern, Armen und Abgehängten keine Perspektive mehr bietet, bleiben eben genau die 20 plus X Prozent Wählerstimmen übrig, bei denen die SPD nun schon seit fast einem Jahrzehnt hängen bleibt. Mit der Anbiederung an die FDP und der Ablehnung der Linkspartei (die Hartz IV massiv kritisiert) wissen die Wähler, dass Sozialreformen zugunsten der Armen mit der SPD nicht zu machen sind.

Diskurs nach rechts verschoben

Der kurze Schulz-Hype zeigt den Sozialdemokraten aber eine politische Perspektive auf. Die kurzzeitig guten Umfragewerte deuten darauf hin, dass die von der SPD verprellten Wähler durchaus dazu bereit wären, ihr Kreuz wieder bei Schulz und Co. zu machen. Doch dafür müssten die Inhalte stimmen. Mit der Agenda-Politik hat die SPD den sozialpolitischen Diskurs nach rechts verschoben. Um wieder attraktiv zu werden, muss sie die sozial-, arbeits- und wirtschaftspolitische Debatte im Land wieder nach links rücken. Und das geht nur mit einer Abkehr von der Agenda-Politik – und einer Zuwendung zu deren Opfern.

Nebenbei könnte die SPD mit einer neuen Sozialpolitik einen potenziellen Koalitionspartner auf Bundesebene gewinnen. Denn auch wenn die Sozialdemokraten ihre Ablehnung gegenüber einer Zusammenarbeit mit den Linken stets mit außenpolitischen Differenzen begründen – elementare Unterschiede liegen auch in der Arbeits- und Sozialpolitik. Der Kampf gegen die Agenda 2010 ist der Gründungsmythos der Linken. Ein Entgegenkommen der SPD in Sachen Hartz IV könnte die verfeindeten Parteien zusammenführen. Mit einem Linksbündnis ließe sich das Thema soziale Gerechtigkeit auch glaubwürdiger umsetzen als in einer weiteren Großen Koalition.

16 Sep 2017

AUTOREN

Jörg Wimalasena

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