taz.de -- Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Dem Glück nachlaufen

Auch jenseits der Outdoorindustrie und Regionenwerbung wird viel vom Glück des Wanderers geredet.​ Und tatsächlich: Es stimmt!
Bild: Verschnaufen muss aber auch mal sein

Eisenach liegt in der Mitte von Deutschland, in einer hügeligen, offenen Landschaft. Grüne Idylle, Naturbehagen. Eisenach hat eine Altstadt mit Fachwerk, die Wartburg, Johann Sebastian Bach und Martin Luther. Die Stadt liegt am Rennsteig, dem deutschesten aller deutschen Wanderwege, von dessen Waldesschweigen so mancher schwärmt. Hier findet der diesjährige Deutsche Wandertag vom 26. bis zum 31. Juli statt; eine Ausstellung im Stadtschloss würdigt bis Oktober die „Wanderlust oder die Sehnsucht nach dem Paradies“.

Das Wandern in der Natur ist eine nicht nur in der Romantik strapaziertes Bild vom Paradiesgärtchen. Aber ein Versprechen, das – wenn man auf kostspielige Outdoor-Ausrüstung verzichtet – für fast jeden erschwinglich ist. Wandern ist ein demokratisches Glücksversprechen, das vor der Haustür beginnt, für jedermann und jedefrau, die den inneren Schweinehund besiegen. Für ein Drittel aller Deutschen soll Wandern sogar das pure Glück sein – das hat eine Studie im Auftrag der Marke Gore-Tex ergeben, die sich für repräsentativ hält. Aber auch jenseits der Outdoorindustrie und Regionenwerbung wird viel vom Glück beim Wandern geredet.

„Glückauf“ heißt so mancher Wanderverein, dem man lieber nicht beitreten möchte, und „200. 000 Kilometer Wege ins Glück durchziehen die Republik“, schreibt der Focus über deutsche Wanderwege.

Glaubt man der nachdenklichen Wanderliteratur, so ist Wandern Lebenskunst, Selbsterfahrung, Naturerfahrung, die Wiederentdeckung der Langsamkeit, gut für Körper und Seele. Und in Zeiten von Fitness- und Gesundheitswahn spricht sowieso alles für das Wandern:

Es ist das probateste Mittel zur Prävention und Therapie von Zivilisationskrankheiten. Es hat positiven Einfluss auf den Fettstoffwechsel und das Immunsystem. Nahezu nebenwirkungsfrei werden Herz, Kreislauf, Stoffwechsel und Atmung, Muskeln und Stützgerüst gestärkt, während das Risiko von Infarkt, Krebs und Diabetes um mehr als die Hälfte abnimmt.

Wandern erhöht die Erneuerung von Hirnzellen

Ca. 350 Kcal pro Stunde verbrennt man bei einer leichten Wanderung, bei einer Wanderung im Gebirge steigt der Verbrauch auf 555 Kcal. Im Bereich der unteren Extremitäten werden Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder stabilisiert bzw. gestärkt.

Regelmäßiges Wandern führt zur Vergrößerung des Atemzugvolumens und der Lungenvitalkapazität. Dies hat eine tiefere, regelmäßigere Atmung, eine geringere Atemfrequenz und eine bessere Durchblutung der Lunge zur Folge. Wandern erhöht die Verzweigungs- und Erneuerungsrate von Hirnnervenzellen und steigert das geistige Leistungsvermögen.

Und infolge eines veränderten Stoffwechsels steigert es die Produktion körpereigener Hormone und Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin. Damit verbinden sich Gefühle des Wohlbefindens und Glücks. Das Glück beim Wandern, philosophisch umrankt und romantisch verklärt, ist längst wissenschaftlich erwiesen! Brauchen Sie noch mehr Argumente, um endlich loszugehen?

Du musst wandern!

Dann besuchen Sie die kleine Eiesnacher Ausstellung, die mit ausgewählten Fotos, Bildern, Musik und Objekten – beispielsweise alten, geschnitzten Wanderstöcken mit klappbarer Sitzgelegenheit – vom Wandern erzählt. Sie präsentiert auch einen skurrilen Mittelgebirgswanderer, der noch heute die Nachwelt beschäftigt: Jürgen von der Wense.

Mitte der 20er Jahre ging der Musiker als Wanderer und Seismograf der „Fieberlinien“ in das hessische Mittelgebirge. Er legte mehr als 40.000 Kilometer zu Fuß zurück und legte umfangreiche lexikalische Materialsammlungen zu verschiedenen Buchprojekten an, aus denen nie was wurde. Und er hat viel übers Wandern nachgedacht:

„Ich bin gewandert, gewandert. Erst gewandert durch die Musik, durch die Künste, durch fast alle Wissenschaften hindurch, dann auch mit eigenen Füßen auf dem Erdball und viele Tausende Meilen – weiter, ewig weiter, kein Ziel, denn alles ist Aufbruch.“

Also: Du musst wandern! Und ich bin dann mal weg!

9 Jul 2017

AUTOREN

Edith Kresta

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