taz.de -- DeutschtürkInnen beim Referendum: Antidemokratisch by nature?

Antidemokratische Einstellungen nehmen zu. Sie zu ethnisieren, ist Unfug. Das zeigt sich auch bei der Kritik am Abstimmungsverhalten von Deutschtürken.
Bild: Nicht genug integriert? Feierende nach dem Referendum an der Berliner Gedächtniskirche

War ja klar: Kaum ist das Referendum über die Verfassungsänderung in der Türkei vorbei, raunt es im deutschen Blätterwald über die vermeintliche Demokratieunfähigkeit der „Deutschtürken“, die damit in Deutschland „noch lange nicht angekommen“ (Spiegel Online) seien.

Aber wir wollen doch mal die Kirche im Dorf lassen, gerade hier in Berlin. Von den etwa 200.000 Berliner „DeutschtürkInnen“ – was ja eigentlich alle Menschen mit Herkunft aus der Türkei einschließt – waren Ende 2016 genau 97.682 türkische Staatsbürger. Die Volljährigen darunter, insgesamt 93.909, konnten am Türkeireferendum teilnehmen. Wiederum 43,4 Prozent haben das getan: 40.756 Personen. Und davon haben in Berlin 50,6 Prozent mit Ja, also für die Verfassungsänderung, gestimmt: 20.622 Männer und Frauen, insgesamt etwa ein Zehntel der „DeutschtürkInnen“, 0,59 Prozent der Berliner Bevölkerung.

Klar ist es nicht schön, wenn Leute dafür votieren, dass demokratische Rechte beschränkt, demokratische Institutionen abgeschafft werden. Und sicher ist es richtig, danach zu fragen, was sie zu einer solchen Entscheidung bringt. Aber muss man das im Falle der „Deutschtürken“ tatsächlich mit deren Herkunft und angeblich mangelnder Integration begründen?

Und was ist mit AfD-WählerInnen?

Von den 1.662.476 Menschen, die an der Abgeordnetenhauswahl im September 2016 teilgenommen haben, haben 9.459 mit ihrer Zweitstimme NPD gewählt, 231.492 die AfD. Das sind insgesamt 240.951 Menschen, 6,85 Prozent der Berliner Bevölkerung. Man muss also offenbar keine türkischen Wurzeln haben, um gegen demokratische Werte wie Freiheit und Gleichheit und für die Unterdrückung von Minderheiten und völkischen Nationalismus zu stimmen.

Damit soll keineswegs der Spieß nur umgedreht werden. Zumal der Umkehrschluss dieser Argumentation in Bezug auf die „Deutschtürken“ genau Erdoğans Denkweise entspräche: Wer mit Nein stimmt, wäre also kein „richtiger Türke“ mehr, sondern „Vaterlandsverräter“ (Erdoğan) oder „in Deutschland angekommen“ (Spiegel online)?

Antidemokratische Einstellungen und Bewegungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Es ist Unfug, sie zu ethnisieren. Besser wäre, individuelle Beweggründe für antidemokratische Wahlentscheidungen zu analysieren – und damit auch die „DeutschtürkInnen“ als politisch handelnde Individuen ernst zu nehmen.

18 Apr 2017

AUTOREN

Alke Wierth

TAGS

Türkei
Integration
Deutschtürken
Herbstzeitlos
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt taz.meinland
Schwerpunkt Türkei
Türkei

ARTIKEL ZUM THEMA

Kolumne Herbstzeitlos: Wir kennen uns seit dem Kindergarten

Die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Deutschtürken geht trotz einer Abstimmung weiter. Gerne auch im Streit.

Kommentar Proteste gegen das „Ja“-Votum: Schlau von Erdogan

Die Proteste gegen mutmaßlichen Wahlbetrug müssen Erdogan nicht beunruhigen. Ohne politische Führung verläuft die Nein-Bewegung ins Leere.

Nach dem Referendum in der Türkei: Blasse rote Linien in Brüssel

Mit extremen Forderungen beschädigt Erdoğan auch nach dem „Ja“ das Verhältnis zu Europa. Die EU tut so, als sei die Lage unter Kontrolle.

Cem Özdemir über türkisches Referendum: „Für Erdoğan sind Gesetze biegsam“

Das Referendum zeigt: Erdoğan kann unter demokratischen Bedingungen kaum mehr eine Wahl gewinnen, sagt der Grünen-Chef.

Referendum spaltet Deutschtürken: „Hajo“ und „Hayır“ in Mannheim

In Mannheim hat Integration geklappt, meinen die „Mannemer“. Das türkische Referendum reißt Gräben zwischen Leuten mit türkischem Pass auf.

Abstimmung über Präsidialsystem: Hohe Beteiligung der Deutschtürken

Weltweit nahmen 1.396.480 Auslandstürken an der Abstimmung über die Verfassung in der Türkei teil. Die Beteiligung war höher als bei der Parlamentswahl 2015.

Abstimmung in der Türkei: Wie Erdoğan meine Familie spaltet

Die Eltern hassen Erdoğan; Oma, Onkel und Cousins lieben ihn. Ein Familienbesuch in Heidelberg kurz vor dem Verfassungsreferendum.