taz.de -- Grünen-Politiker über Abschiebungen: „Wir befeuern eine Scheindebatte“
Seine Partei sollte Abschiebungen nach Afghanistan ausschließen, fordert Erik Marquardt. Es gebe dort keine sicheren Gebiete.
taz: Herr Marquardt, Sie sind Mitglied im Grünen-Parteirat und gerade von einer zweiwöchigen Afghanistan-Reise zurückgekehrt. Wie sah es dort aus?
Erik Marquardt: Ich war in Kabul und in der Gegend von Masar-i-Scharif. Quer durchs Land reisen kann man leider nicht, das lässt die Sicherheitslage nicht zu. Ganze Gebiete werden von den Taliban kontrolliert. Selbst in den Städten, in denen ich war, ist alles hoch militarisiert. Wer es sich leisten kann, versteckt sein Haus hinter hohen Mauern. Überall sind Straßensperren. Ich hatte das Gefühl, in einem Kriegsgebiet zu sein.
Gibt es in Afghanistan sichere Orte?
Nein. Der UNHCR, die Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen, hat vor Kurzem wieder betont, dass das Land nicht sicher ist. Das Einsatzkommando der Bundeswehr hat nach den jüngsten Anschlägen vor den Taliban gewarnt. Ich habe in den Botschaften dort Mitarbeiter getroffen, die mich gefragt haben, wie es draußen eigentlich aussieht. Die haben sich seit Monaten nicht vom Botschaftsgelände auf die Straße getraut. Das Auswärtige Amt rät dringend von Reisen nach Afghanistan ab. Aber gleichzeitig bewertet das deutsche Bundesinnenministerium Orte wie Kabul als sicher genug, dass man dorthin abschieben kann.
Nicht nur das Innenministerium. Auch [1][grüne Regierungsvertreter aus zehn Bundesländern haben ein Papier verfasst], in dem sie Abschiebungen nach Afghanistan für grundsätzlich möglich erklären – obwohl Parteivorstand und Bundesfraktion dagegen sind.
Ich habe das Papier mit großem Erstaunen gelesen. Es ist ein sehr technokratisches Dokument, das die Rechtslage darstellt. Zwar ist die Hauptaussage, dass die Beurteilung der Sicherheitslage Aufgabe des Bundes ist. Die grünen Ministerpräsidenten und Landesminister heben hervor, dass sie Abschiebungen nicht verhindern können. Trotzdem ärgere ich mich sehr über dieses Papier.
Warum?
Weil die Grünen damit eine innenpolitische Scheindebatte befeuern. Es gibt in Afghanistan keine sicheren Gebiete. Ich habe mich persönlich davon überzeugt. Was da diskutiert wird, hat mit der Realität nichts zu tun. Wir sollten die Bundesregierung klar angreifen – statt sie freundlich zu bitten, sich noch mal mit der Sicherheitslage auseinanderzusetzen.
Die Grünen in Nordrhein-Westfalen beschlossen nun einen Abschiebestopp nach Afghanistan und appellieren an andere Länder, Ausweisungen dorthin ebenso zu verweigern. Eine Gegenoffensive?
Ich bin froh, dass unter anderem die Landesverbände in Nordrhein-Westfalen und Berlin ihre Position deutlich klargestellt haben. Es muss jetzt noch mehr Initiativen für einen Winter-Abschiebestopp in Afghanistan geben. Das ist nicht unbedingt eine Gegenoffensive. Ich glaube, einigen war gar nicht bewusst, wie das Papier intendiert war.
Wie war es denn intendiert?
Die Initiative kam aus Baden-Württemberg. Ich glaube, dass Teile der Partei gerade, innenpolitisch motiviert, außenpolitisch schlechte Positionen vertreten. Im Dezember haben gab es seit Jahren die erste Sammelabschiebung dorthin. Die haben grüne Landespolitiker deutlich kritisiert. Jetzt wirkt das wie eine Kehrtwende. Aus Wahlkampfsicht ist das alles äußerst ungeschickt.
Wollen die Grünen der AfD die Wähler abwerben?
Nein, das wollen wir bestimmt nicht. Trotzdem sieht die Berichterstattung nun nach einer AfD-Annäherung auf dem Rücken der Leute aus Afghanistan aus. Wir sollten nicht auf den Rechtsruck reagieren, indem wir ihm entgegenkommen. Und wir sind als Partei nicht angetreten, um die größte Fahne im Wind zu sein. Die Berichterstattung trägt dazu bei, dass wir zu Anfang des Wahljahrs gespalten dastehen. Ich weiß nicht, was der Wähler daraus ziehen soll, wenn die Grünen sich streiten.
Wird sich jetzt konkret etwas ändern für Asylbewerber aus Afghanistan?
Das muss sich noch zeigen. Mir haben einige afghanische Asylbewerber geschrieben und gefragt, was da bei den Grünen los ist. Die haben Angst. Die aktuelle Abschreckungsmasche hat mit grüner Asylpolitik nichts zu tun.
Wünschen Sie sich, Ihre Parteikollegen wären mit Ihnen in Afghanistan gewesen?
Ja. Ich glaube, man kann die Situation nur unzureichend bewerten, wenn man hier am Schreibtisch im Warmen sitzt und Papiere schreibt.
Sie kritisieren Ihre Partei sehr deutlich.
Mir ist es egal, ob mir jetzt Leute in den Rücken fallen oder ob ich mit meiner Meinung in der Partei gut dastehe. Wichtig ist, dass wir jetzt wieder für eine menschenwürdige Asylpolitik streiten.
23 Jan 2017
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