taz.de -- Gesetz für Menschen mit Behinderung: Willkür statt Selbstbestimmung
Wenig Verbesserungen, mehr Unsicherheit: Das bedeutet das neue Bundesteilhabegesetz für diejenigen, die es betrifft. Die Einzelheiten im Überblick.
Es hat Jahre gedauert. Seit die UN vor knapp zehn Jahren die Behindertenrechtskonvention verabschiedete, strebte der Gesetzgeber ein neues Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderung an. Am Donnerstag stimmte die Koalition im Bundestag nun für den Gesetzentwurf. Die Linken stimmten dagegen, die Grünen enthielten sich.
Es sei das „größte und wichtigste sozialpolitische Vorhaben der Koalition“, lobte Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. So euphorisch sind längst nicht alle, die das Gesetz betrifft. Schon immer mussten Menschen mit Behinderungen um ihre Stellung in der Gesellschaft kämpfen. Selbst notwendige Hilfen zur schlichten Existenzsicherung waren und sind nicht selbstverständlich.
Ansprüche von Betroffenen befanden sich immer im allgemeinen Sozialhilferecht, insbesondere seit 1962 mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes. Auch damals wurde die besondere Situation der Betroffenen nicht berücksichtigt. Menschen mit Behinderungen sind, im Gegensatz zu manch anderen, die auf Hilfe angewiesen sind, nicht in der Lage, ihre Situation zu ändern. Sie sind immer auf diese angewiesen.
Dies wurde bereits 1973 erkannt. Damals stellte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag als Opposition einen Antrag auf ein eigenes „Leistungsgesetz für Behinderte“ – vergeblich. Einen erneuten Versuch unternahm die Unionsfraktion, wiederum in der Opposition, 2001 – ebenfalls vergeblich.
Die aktuelle Debatte um das sogenannte Bundesteilhabegesetz (BTHG) nahm seinen Anfang 2013, als die Bundesregierung zentrale Forderungen in ihren Koalitionsvertrag aufnahm. Mitte 2014 startete dann ein umfangreicher Beteiligungsprozess, an dessen Ende die Arbeiten zu einem ersten Entwurf standen. Dieser 2016 vorgestellte Entwurf führte zu teils spektakulären und noch immer andauernden Protesten.
Final soll das „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“ bis 2020 in Kraft treten.
Anders als bei früheren Gesetzgebungsprozessen im Bereich der Behindertenpolitik wird der Protest von Betroffenen selbst angeführt. Die einflussreichen Wohlfahrtsverbände und Heimbetreiber stellen zwar nach wie vor die größten Ressourcen, verlieren aber zunehmend an Einfluss – nicht nur in den sozialen Medien.
Kritik äußern die Gegner des Gesetzes etwa am wachsenden Auslegungsspielraum der Behörden. Mehr Entscheidungen würden dadurch zur Ermessenssache. Es werden mehr Hürden für Betroffene auf- als abgebaut. Die Regierung und auch die meisten Länder sehen das weniger kritisch. Man beruft sich darauf, dass die Lage des Einzelnen bei kritischen Fällen durch den Bestandschutz berücksichtigt wird.
Für die Betroffenen ist die Situation jedoch existenzieller. Für sie ist die zu erwartend steigende Zahl der Ermessensentscheidungen ein Rückschritt. Menschen mit Behinderungen könnten dann von willkürlichen Entscheidungen abhängig sein.
Ein Beispiel für eine solche Willkür ist das sogenannte Poolen (siehe Kasten). Das bezeichnet die Hilfe für mehrere Betroffene gleichzeitig – auch gegen deren Willen. Das kann etwa bei Fahrdiensten für behinderte Schüler sinnvoll sein. In anderen Bereichen aber nicht. Dort kann die Regelung dazu führen, dass zwei zufällig im selben Mietshaus wohnende Menschen mit Behinderungen sich eine Pflegekraft teilen müssen. Ob dies zumutbar ist, obwohl sich Betroffene möglicherweise nur vom gleichen Geschlecht pflegen lassen wollen, entscheidet dann der Beamte nach eigenem Ermessen.
Ein weiteres Problem betrifft ehrenamtliche Tätigkeiten. Da viele Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Jobs finden, sind sie häufig ehrenamtlich tätig. In diesem Fall muss nach dem neuen Gesetz auch ihre Assistenzleistung vorrangig ehrenamtlich sein. Pech haben dann die Leute, die nicht auf ein gutes soziales Netzwerk zurückgreifen können – und dadurch möglicherweise auf ihre ehrenamtliche Tätigkeit verzichten mit dem Risiko, in die Isolation abzurutschen.
Aber selbst die Frage, ob ein Mensch überhaupt stark genug eingeschränkt ist, um als Behinderter Anspruch auf Leistungen zu haben, kann zukünftig vom Ermessen eines Einzelnen abhängen. So soll mit dem Gesetz bis 2023 eine neue Voraussetzung eingeführt werden: Anspruchsteller müssen in mindestens 5 von 9 Lebensbereichen nicht ohne personelle oder technische Unterstützung ihren Aktivitäten nachgehen können. Wer also in weniger Lebensbereichen Hilfe benötigt, hat keinen Anspruch, unterstützt zu werden.
Es überrascht nicht, dass auch hier wieder das Ermessen des zuständigen Bearbeiters zum Tragen kommt. Dieser kann nämlich auch dann Hilfen genehmigen, wenn der Betroffene nach dem Gesetz eigentlich keinen Anspruch darauf hätte. Wohlgemerkt: Bisher gibt es diese Zugangsvoraussetzung nicht. Wer heute eine Behinderung hat, unabhängig von der Frage, in wie vielen Lebensbereichen er dadurch eingeschränkt ist, erhält die benötigten Hilfen. Die Betroffenenverbände fordern, dass die Zahl der nachzuweisenden Einschränkungen nicht ein Minimum erreichen muss.
Der wohl größte Knackpunkt am neuen Gesetz aus Sicht von Betroffenen ist aber wohl das Entfallen der Regelung „ambulant vor stationär“. Lange hatten Menschen mit Behinderungen darum gekämpft, dass Hilfen vorrangig ambulant, also in den eigenen vier Wänden, zu erfolgen haben. Der Gesetzgeber möchte diesen Vorrang nun abschaffen. Begründet wird dies damit, man wolle den Betroffenen eine größere Selbstbestimmung ermöglichen. Eine gesetzliche Favorisierung einer speziellen Wohnform sei nicht zeitgemäß.
Im Grunde wäre diese Formulierung auch für die Betroffenen kein Problem, gäbe es da nicht den Kostenvorbehalt. Dieser führt dazu, dass dem Betroffenen nicht zwangsläufig so geholfen wird, wie er dies möchte. Ist beispielsweise eine Unterbringung in einem Behindertenheim günstiger als die ambulante Pflege, kann ein Betroffener auch gegen seinen Willen in einem solchen untergebracht werden.
Es gibt aber auch Verbesserungen, die allerdings noch weit entfernt von einer konsequenten Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind. So wird die Grenze für die Vermögensanrechnung auch für diejenigen, die Hilfe zur Pflege nutzen, schrittweise angehoben; ab 2017 auf 27.600 Euro und ab 2020 auf 50.000 Euro. Bei Menschen mit Behinderung mit einem Einkommen ab 35.000 Euro pro Jahr kann sich die finanzielle Situation sogar verschlechtern. Dies gilt auch für blinde Menschen.
Auch soll eine von Kostenträgern und Leistungserbringern unabhängige Beratung eingeführt werden. Das Budget für Arbeit als Alternative zu einer Beschäftigung in einer Werkstatt wird bundesweit eingeführt.
Doch das ist zu wenig. Die Verbesserungen reichen nicht aus, um die zunehmenden Unsicherheiten den Betroffenen zu nehmen. Die Bundesregierung hingegen sieht die Ängste als unbegründet. Wessen Ansicht nachvollziehbarer erscheint, ist wohl auch: eine Frage des persönlichen Ermessens.
1 Dec 2016
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