taz.de -- Nach dem Putschversuch in der Türkei: Säuberungsaktion geht weiter

In der Nacht strömten Tausende auf die Straßen, um Erdogan ihre Unterstützung zuzusagen. Der denkt indes über die Einführung der Todesstrafe nach.
Bild: Feiern nach dem gescheiterten Umsturz: Putsch-Gegner auf dem Taksim-Platz in Istanbul

Istanbul dpa | Nach dem Putschversuch in der Türkei sind Zehntausende Menschen bis zum frühen Sonntagmorgen auf die Straße gegangen, um das Scheitern der Umstürzler zu feiern und eine „Wache für die Demokratie“ zu halten. Die Bürger folgten einem Aufruf der Regierung, öffentliche Plätze nicht möglichen weiteren Putschisten zu überlassen. Zu der Aktion hatte die Staatsführung in einer SMS aufgerufen. Der Staatsapparat setzte derweil die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigte „Säuberung“ bei Militär und Justiz fort.

Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul versammelten sich Tausende Erdogan-Anhänger. Viele schwenkten die türkische Flagge und riefen „Gott ist groß“. Auf den Straßen der Stadt fuhren hupende Auto- und Motorradkorsos. Die Ausgehviertel in der Metropole waren dagegen weitgehend verwaist. Auch in Deutschland zogen Erdogan-Anhänger auf die Straßen – allein in Nordrhein-Westfalen waren es am Wochenende nach Polizeiangaben mehr als 10.000.

Bei dem versuchten Umsturz wurden nach offiziellen Angaben mindestens 265 Menschen (161 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und 104 Putschisten) getötet und mehr als 1.000 verletzt. Die Putschisten wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenrechte sowie die verfassungsmäßige Ordnung wiederherstellen.

Gegen 140 Richter und Staatsanwälte sind örtlichen Medien zufolge nach dem missglückten Coup bereits Haftbefehle ergangen. Mehrere türkische Medien berichteten in der Nacht zum Sonntag, dass sie unter anderem der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschuldigt würden.

Erdogan [1][macht die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich] und kündigte Vergeltung an: „Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen.“ Über die Einführung der Todesstrafe könne im Parlament gesprochen werden, sagte Erdogan vor Anhängern. „Es ist auch nicht nötig, sich dafür von irgendwoher eine Erlaubnis einzuholen.“

Putschversuch verurteilt

Für den Grünen-Politiker Omid Nouripour ist das „beängstigend“, wie er der Huffington Post Deutschland sagte. Die Bundesregierung müsse klare Worte gegenüber Erdogan finden. Baue Erdogan ein „noch autoritäreres System auf, dann würde das die deutsch-türkischen Beziehungen belasten“, warnte Nouripour. EU-Kommissar Günther Oettinger ermahnte die türkische Regierung in der Welt am Sonntag, die demokratischen Grundrechte nach dem versuchten Putsch nicht weiter einzuschränken.

Kanzlerin Angela Merkel verurteilte den Putschversuch „aufs Schärfste“, mahnte aber zugleich die Einhaltung demokratischer Werte bei der Verfolgung der Urheber an. „Gerade im Umgang mit den Verantwortlichen für die tragischen Ereignisse der letzten Nacht kann und sollte sich der Rechtsstaat beweisen.“

Eine Beruhigung der Lage ist nach Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor allem für die deutsch-türkischen Beziehungen wichtig. „Derzeit sind 200.000 Urlauber aus Deutschland in der Türkei. Wie mit kaum einem anderen Land verbinden uns so vertraute und enge menschliche Beziehungen“, sagte Steinmeier der Bild am Sonntag.

Auch Bundespräsident Joachim Gauck sagte: „Meine Erwartung an die türkische Regierung besteht darin, dass bei der Aufarbeitung dieses ganzen Geschehens die rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze gewahrt werden.“

Mehrere Generäle festgenommen

Ein klarer Anführer der Putschisten aus den Reihen des Militärs ist bislang nicht benannt worden. Allerdings wurden mehrere Generäle festgenommen, darunter Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk, der bislang dem Obersten Militärrat angehörte. Aus Regierungskreisen wurde Öztürk als einer der mutmaßlichen Drahtzieher bezeichnet. Nach Angaben aus Regierungskreisen hatten die Putschisten sechs F16-Kampfflugzeuge in ihre Gewalt gebracht.

Am Samstag waren nach Angaben aus Regierungskreisen bereits zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts in Ankara festgenommen worden, wie zuvor schon zehn Mitglieder des türkischen Staatsrats und fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte.

Insgesamt 2.700 Richter wurden bereits abgesetzt – fast ein Fünftel der schätzungsweise rund 15.000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergewerkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul, nicht nur mutmaßliche Unterstützer des Putsches, sondern auch völlig unbeteiligte Kritiker Erdogans würden festgenommen.

Offiziellen Angaben zufolge wurden in einer ersten Aktion auch mehr als 2.800 Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste sollen Regierungskreisen zufolge ihrer Posten enthoben worden sein. Nach Angaben der türkischen Regierung soll sich die Zahl der Festgenommenen bis Sonntagmittag auf rund 6.000 angestiegen sein. Diese Zahl werde sich noch weier erhöhen, kündigte Justizminister Bekir Bozdag in Ankara an.

Dieser Artikel wurde aktualisiert um 14.45 Uhr.

17 Jul 2016

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