taz.de -- Anschläge in Europa: Beinahe Normalität

In Europa mehren sich Anschläge. In Nizza tötete ein Mann mit einem Lkw mehr als 80 Menschen. Warum ist besonders Frankreich betroffen?
Bild: Die Motive des mutmaßlichen Attentäters von Nizza sind noch unklar

PARIS/BERLIN taz | Jetzt also Nizza. Dass es nicht so eindeutig ist, was [1][an der französischen Mittelmeerküste passiert ist], lässt sich an der Wortwahl von Frankreichs Präsident François Hollande ablesen. Er spricht von einer Tat mit „terroristischem Charakter“. Noch sind die Motive des mutmaßlichen Attentäters unklar. Es würde ins Bild passen, dass er von der Terrormiliz IS zumindest inspiriert war. Die Tat scheint sich einzureihen in die Terroranschläge, die auch in Europa beinahe zur Normalität geworden sind.

Januar 2015, Charlie Hebdo, ein Angriff auf ein Satiremagazin und einen jüdischen Supermarkt, auf die Meinungsfreiheit. November 2015, Paris, Anschläge auf das Stade de France, Konzerthalle, Kneipen und Restaurants, 130 Tote. Angriff auf die Lebensfreude. März 2016, Brüssel, die Hauptstadt Europas, Anschläge auf den Flughafen und die Metro, 35 Tote. Angriff auf den Alltag. In Istanbul gab es bereits fünf Anschläge allein in diesem Jahr. [2][Zuletzt auf den Flughafen Atatürk], ein internationales Drehkreuz, 45 Tote. Angriff auf die Globalisierung.

Auch außerhalb Europa haben sich die Islamisten sogenannte weiche Ziele ausgesucht und in den vergangenen Wochen Orte angegriffen, die für eine Lebensweise stehen, die sie verachten. Der Nachtclub in Orlando, in dem vor alle die LGBT-Community feierte, 50 Tote. Das spanische Restaurant in Dhaka, in dem sich vor allem Ausländer tummelten, 28 Tote. Und dann noch all die Anschläge in den Ländern, die es hierzulande meist gar nicht mehr groß in die Nachrichten schaffen, Irak, Somalia, Afghanistan.

In Paris, Brüssel und all den anderen Städten waren die tödlichen Waffen Sturmgewehre und Bomben. Jetzt ein vermeintlich harmloser weißer Lkw.

Neben den weichen Zielen, auf die die Terroristen schon vor Jahren umgeschwenkt sind, kam in Frankreich nun auch eine weiche Waffe zum Einsatz. Ein Fahrzeug, das in eine Menschenmenge rast, um möglichst viele zu töten – diese Methode ist aus Irak bekannt, aber auch aus Israel. Dort sind es aber vor allem kleinere Autos.

Nach einem Anschlag mit Sturmgewehren kann man versuchen, den Zugang zu Waffen zu erschweren. Nach einem Bombenanschlag in der Metro oder im Flughafen kann man Sicherheitskontrollen verschärfen. Aber wie will man einen eigentlich harmlosen Laster aufhalten? Terroristen kommen ihrem Ziel wohl noch näher, Angst und Verunsicherung zu verbreiten.

Warum gerade Frankreich?

In Europa hat in jüngster Zeit kein Land so stark unter dem Terror zu leiden wie Frankreich. Mindestens 229 Menschen sind dort in den vergangenen zwei Jahren bei islamistischen Anschlägen ums Leben gekommen. Das sind zwei Drittel aller Terrortoten des Kontinents, selbst wenn man die Anschläge in der Türkei komplett einbezieht. Warum gerade Frankreich?

Frankreich ist heute der Erzfeind der Islamisten, besonders des IS. Frankreich ist nicht federführend im Kampf gegen die Dschihadisten in Syrien und Irak, aber doch sehr aktiv. Nicht ganz zufällig hatte Staatspräsident Hollande in seinem Fernsehinterview zum Nationalfeiertag eine Verstärkung der französischen Intervention angekündigt und die Entsendung französischer Militärberater zur Unterstützung der Offensive gegen den IS in der irakischen Region Mossul bestätigt.

Das Attentat von Nizza könnte in dieser Perspektive wie eine unmittelbare Strafaktion betrachtet werden. Für Hollande steht aber dieses militärische Engagement nicht zur Diskussion. Und auch nach innen hat er gleich reagiert. Der Ausnahmezustand, der nach der EM eigentlich gelockert werden sollte, soll um drei Monate verlängert werden. Dass das Parlament dem noch zustimmen muss, ist Formsache.

Frankreichs Beteiligung an der internationalen Koalition im Kampf gegen IS und al-Qaida ist bei Weitem nicht der einzige Grund, der die Motive der Terroristen und auch die besonders hohe Zahl an Dschihadisten aus Frankreich erklären könnte. Im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Ländern fühlt sich Frankreich von seiner Geschichte her verpflichtet, seine universellen Grundwerte überall in der Welt zu verteidigen.

Man erinnert sich, wie Frankreich dabei ganze Teile von Afrika auch nach der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonien wie seinen Hinterhof betrachtete. Das hat in diesen Ländern mitunter ein feindseliges Bild geschaffen, für das die Staatsführungen in Paris eine große Mitverantwortung tragen. Ebenso erregte Frankreich in der islamischen Welt Missfallen mit der strikten Durchsetzung des Prinzips der Trennung von Religion und Staat. Darauf berief man sich, als das islamische Kopftuch in Schulen und die Totalverschleierung in der Öffentlichkeit generell per Gesetz verboten wurde.

Eine heftige Polemik existiert in Frankreich aber auch zur Frage, inwiefern eine Gesellschaft, die ganze Teile einer aus der nordafrikanischen Immigration stammenden Jugend in Vorortssiedlungen der Banlieue ausschließt, sich selber solche innere Feinde geschaffen habe. Vor allem Premierminister Manuel Valls hat mehrfach geltend gemacht, die Banlieueproblematik dürfe nicht irgendwie als „soziale Entschuldigung“ einer Radikalisierung einer Minderheit dieser Jugendlichen missbraucht werden.

Das Phänomen Terrorismus ist zudem nicht neu. Seit mehr als dreißig Jahren ist Frankreich mit Terroranschlägen konfrontiert. In den 1980er und 1990er Jahren standen diese Anschläge und Geiselnahmen fast immer im Zusammenhang mit den Konflikten im Nahen Osten. Doch damals ging es um klare Forderungen: die Rückerstattung eines iranischen Kredits aus der Zeit des Schahs, Frankreichs Rolle im Libanon oder in Algerien. Heute scheint die Feindschaft mehr auf rein ideologischen Argumenten zu beruhen.

Der Feind von innen

Und anders als in dieser ersten Periode von Bombenanschlägen und Geiselaffären kommt der „Feind“ nicht von außen, sondern ist in er Mehrheit der Fälle in Frankreich aufgewachsen. Die islamistischen Terroristen sind Franzosen, ihr Hass ist mitten in Europa gewachsen. So war es offenbar auch beim jetzigen mutmaßlichen Attentäter, er wohnte in Nizza, war nicht als Islamist bekannt.

Deutschland ist bislang von größeren Anschlägen verschont geblieben. Zwei 16-Jährige, die im April einen Anschlag auf ein Sikh-Gebetshaus in Essen begangen haben sollen, stellten sich als IS-Sympathisanten heraus. Auch eine 15-Jährige, die im Februar im Hauptbahnhof Hannover ein Küchenmesser in den Hals eines Bundespolizisten rammte, war eine IS-Anhängerin. Schon lange heißt es aus Sicherheitsbehörden, dass ein großer Anschlag nur eine Frage der Zeit sei.

In Frankreich ist aus den genannten Gründen die islamistische Bedrohung weit größer, dort rechnen die Behörden fest mit weiteren Anschlägen. Und sie haben auch eine Ahnung davon, wer sie begehen könnte.

Laut den Nachrichtendiensten stehen in der Datenbank der wegen Radikalisierung zu überwachenden Personen rund 13.000 Namen. Die Zahl der französischen Staatsangehörigen, die aus dem Dschihad nach Frankreich zurückkehren könnten, um dort ihren Krieg mit terroristischen Mitteln fortzusetzen, wird auf fast 2.000 geschätzt.

Deshalb wäre es unabdingbar, dass die diversen Dienststellen, die heute noch oft eher in Konkurrenz zueinander stehen, gut zusammenarbeiten.

Eine Parlamentskommission, die Lehren aus den Einsätzen bei früheren Attentaten ziehen sollte, empfahl vor allem eine Maßnahme: Eine einzige nationalen Agentur zur Bekämpfung des Terrorismus soll eingeführt werden, um eine bessere Koordination zu gewährleisten. Dazu ist es bislang nicht gekommen.

Am Tag nach dem Anschlag bedauerte der Kommissionssprecher, der Abgeordnete Georges Fenech, dass die Ratschläge auf die lange Bank geschoben wurden. Er befürchte, dass auch in naher Zukunft weitere Terrorpläne nicht rechtzeitig verhindert werden können.

15 Jul 2016

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AUTOREN

Rudolf Balmer
Sebastian Erb

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