taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Rumpeln im Dunkeln

Grusel, der sich konstant steigert: Kristen Stewart sieht in Assayas „Personal Shopper“ Gespenster. Und Almodóvar recycelt Motive aus seinen Filmen.
Bild: Regisseur Olivier Assayas und Kristen Stewart in Cannes

Auf den Straßen von Cannes und im Festivalpalast herrscht so ein wuselnder Betrieb, dass man sich fast wundert, wie viele ruhig erzählte Filme es in den Kinosälen zu sehen gibt – und wie viele sich reichlich Zeit nehmen, um ihre Geschichte zu erzählen.

Mit zwei Stunden und drei Minuten bewegt sich „Loving“ von Jeff Nichols einigermaßen im Mittelfeld. Nach „Midnight Special“, der im Wettbewerb der Berlinale lief, ist dies der zweite Film des US-Amerikaners in diesem Jahr, der auf einem der großen Festivals um einen Preis konkurriert.

Dafür setzt sich Nichols mit einem historischen Fall der Bürgerrechtsbewegung in den USA auseinander. In der Entscheidung Loving vs. Virginia klagte ein Ehepaar in den fünfziger Jahren gegen das Verbot von „gemischtrassigen“ Ehen im Staat Virginia. Es zog bis vor den Obersten Gerichtshof – und gewann den Fall schließlich 1967, mit weitreichenden Folgen für die Verfassung der USA.

Regisseur und Drehbuchautor Nichols erzählt den Hergang anrührend nüchtern, aber auch etwas behäbig und ohne dramaturgische Kniffe. Das Paar Richard und Mildred Loving (Joel Edgerton und Ruth Negga) wird diskriminiert, verhaftet, verwarnt, des Staates Virginia verwiesen, kommt zurück und erregt irgendwann das Interesse eines jungen Anwalts. Für Spannung sorgt am ehesten die durchgehende Stimmung von latenter Gefahr, was vor allem an der dräuenden Filmmusik von David Wingo liegt.

Mit knapp zwei Stunden begnügt sich der Franzose Olivier Assayas für seinen Wettbewerbskandidaten „Personal Shopper“. Kristen Stewart kehrt nach ihrer Rolle in Woody Allens Eröffnungsfilm „Café Society“ noch einmal auf die Leinwände von Cannes zurück. In einer Geistergeschichte gibt sie die junge Dienstleisterin Maureen, die eine viel beschäftigte Kundin (Nora von Waldstätten) mit ständig neuer Garderobe ausstattet, ohne ihr je richtig zu begegnen. Dafür hat sie Begegnungen anderer Art. In Erscheinungen meint sie Signale ihres verstorbenen Zwillingsbruders Lewis zu erkennen.

Das Gespenstische wird von Assayas auf mehreren Ebenen platziert: als flüchtige, wenngleich bedrohliche Manifestation eines wabernden Wesens im Dunkeln, als Klopfen und Rumpeln, bei dem zeichenhafte Spuren zurückbleiben. Doch auch Maureens Existenz selbst mutet gespenstisch an: sei es als unsichtbare Modeeinkäuferin oder im Gespräch mit ihrem Freund, den sie lediglich im Skype-Chat antrifft.

Assayas beginnt seinen Film wie eine melancholische Suche nach Kontakt zum Jenseits, spart im weiteren Verlauf aber nicht mit handfestem Grusel, der sich konstant steigert. Besonders schön daran ist, dass bis zum Ende offen bleibt, um welche Art von Spuk es sich bei Maureen tatsächlich handelt.

Auf ein Zeichen ihrer Tochter wartet ihrerseits die Titelheldin von Pedro Almodóvars spanischem Wettbewerbsfilm „Julieta“. In diesem in Moll gehaltenen Drama erinnert sich die mittelalte Julieta (Emma Suárez) an die Tage mit ihrer Tochter, die vor Jahren ohne ein Zeichen gegangen ist.

Almodóvar hat dazu einige seiner Motive aus älteren Filmen (Frauen im Koma etwa) recycelt, handhabt das Warten der Mutter auf ihre Tochter jedoch ein wenig unentschlossen. Gelungen ist dafür eine Szene, in der sich die junge Julieta (Adriana Ugarte) mithilfe eines Handtuchs in die ältere verwandelt. Dazu kommt noch der eines Hitchcocks würdige aufwühlende Soundtrack – vielleicht gibt es für den ja einen Preis.

17 May 2016

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Tim Caspar Boehme

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