taz.de -- Kommentar Immunität in der Türkei: Erdoğan provoziert mehr Gewalt
In der Türkei soll Abgeordneten aller Parteien die Immunität entzogen werden können. Aber das ist reine Dekoration. Es geht nur um die HDP.
Bis zum Dienstag war es noch eine heftige politische Kontroverse, jetzt ist es Realität: Das türkische Parlament hat den Abstimmungsprozess für eine vorübergehende Verfassungsänderung eingeleitet. Durch sie kann nun die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben werden, gegen die ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft läuft.
Die Regelung gilt für die Abgeordneten aller Parteien, aber das ist reine Dekoration. Es geht darum, die Vertreter der kurdisch-linken HDP aus dem Parlament zu entfernen und sie möglichst ins Gefängnis zu bringen. Von 59 HDP-Abgeordneten sind 49 von der Immunitätsaufhebung betroffen. Kommt Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan damit durch, wäre das eine historische Zäsur.
Seit 1992 versucht die kurdische Bewegung auf demokratischem Weg die Situation der größten ethnischen Minderheit zu verbessern und eine Autonomie-Regelung für den kurdischen Südosten der Türkei zu erreichen. Von Beginn an wurden kurdische Parlamentarier als Agenten und Terroristen der PKK denunziert. Die ersten vier Abgeordneten wurden 1993 schon einmal ihrer Immunität beraubt und aus dem Parlament heraus verhaftet, was zu einer erheblichen Verschärfung der gewaltsamen Auseinandersetzung führte.
Jetzt, mehr als 20 Jahre später und mit einer kurdisch-linken Fraktion von fast 60 Abgeordneten, soll mit denselben Mitteln noch einmal gegen demokratisch legitimierte Parlamentarier vorgegangen werden.
Die Geschichte wiederholt sich dieses Mal nicht als Farce, sondern als Tragödie: Nach jahrzehntelangen Kämpfen und einem fast greifbaren Ergebnis der Friedensgespräche im Frühjahr letzten Jahres will Erdoğan die Verhandlungen mit der kurdischen Nationalbewegung definitiv beenden.
Die Folge davon wird noch mehr Gewalt, Blut und Tod sein. Am Ende könnte stehen, was angeblich unbedingt verhindert werden soll: die Teilung des Landes.
17 May 2016
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