taz.de -- Rechte Gewalt in Sachsen: Entsteht hier ein neuer NSU?

Die Bundesanwaltschaft vermutet eine rechtsterroristische Vereinigung in Freital. Die lokalen Ermittler sind überrascht.
Bild: Die Polizei bildet die Grenze: Freital im Juni 2015

Als die Polizei im Herbst 2011 in einem Wohnmobil in Eisenach die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt findet, ist das ein Moment der gesellschaftlichen Erschütterung. Das Land erfährt, dass Neonazis 13 Jahre lang in Deutschland rauben und morden konnten, ohne dass die Sicherheitsbehörden etwas davon erfuhren.

Damals versprach Angela Merkel, dass Deutschland alles dafür tun werde, um einen zweiten NSU zu verhindern. Ist dieses Versprechen bei den Sicherheitsbehörden angekommen?

Bis heute sind die Morde des NSU nicht vollständig aufgeklärt. Erst vergangene Woche wurde bekannt, dass Uwe Mundlos während der Mordserie bei einem V-Mann des Verfassungsschutzes gearbeitet haben soll.

2015 ist die Zahl rechtsextremer Straftaten stark angestiegen und es entstand eine Stimmung, die in Gewalt mündete: 1.029 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte zählte das Bundeskriminalamt 2015 – im Vorjahr waren es 203.

70 Prozent der Täter waren der Polizei vorher nicht bekannt. Bisher geht das Bundeskriminalamt von „emotionalisierten Einzeltätern“ aus. Eine organisierte Struktur sehen sie nicht.

Erst der zweite Verdacht nach dem NSU

Freital ist einer der Orte in Deutschland, wo es besonders viele Angriffe gegen Asylbewerber und Flüchtlingsaktivisten gab: das Auto eines Stadtrats und das Büro der Linkspartei wurden gesprengt, Flüchtlinge wurden verprügelt, auf zwei ihrer Unterkünfte wurden Sprengstoffanschläge verübt.

Eine Gruppe wurde in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt: die Bürgerwehr FTL/360. Bei ihnen fand die Polizei ähnlichen Sprengstoff, wie er für die Anschläge verwendet wurde. Drei mutmaßliche Mitglieder der Bürgerwehr sind wegen zwei Sprengstoffanschlägen angeklagt. Weitere Mitglieder stehen in Verdacht, an weiteren Anschlägen beteiligt gewesen zu sein.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden sah jedoch keinen Grund, wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung zu ermitteln. Dafür hat sich jetzt die Bundesanwaltschaft „zum Zwecke der Übernahme“ des Verfahrens eingeschaltet. Sie haben den Verdacht, dass die Bürgerwehr FTL/360 eine terroristische Vereinigung ist.

Es wäre erst der zweite Fall nach dem Nationalsozialistischen Untergrund.

Reporter der taz haben seit Monaten in Freital und Dresden recherchiert, die Clearingstelle des Bundeskriminalamts besucht und mit der ehemaligen Polizistin Irene Mihalic gesprochen, die Obfrau der Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss ist. Sie wollten herausfinden, ob die Polizei vom NSU gelernt hat. Die Titelgeschichte „Der Testfall“ lesen Sie in der [1][taz.am wochenende vom 9./10. April].

8 Apr 2016

LINKS

[1] /!p4662/

AUTOREN

Nils Elias Molle
Steffi Unsleber

TAGS

Polizei
Rechtsextremismus
Freital
Sachsen
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Flucht
Petra Pau
Freital
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rassismus

ARTIKEL ZUM THEMA

Nach Stahlhelm-Angriff auf Flüchtlinge: Ein Jahr Haft für Neonazi

Er hatte sich ein „Hitlerbärtchen“ rasiert und Flüchtlinge angegriffen. Das Amtsgericht Dippoldiswalde sprach den 32-Jährigen am Freitag schuldig.

Syrische Musiker in Freital: Sie sind noch da

Die Band Khebez Dawle fand sich nach der Flucht in Deutschland wieder zusammen und spielte in Freital. Doch den Syrern droht die Abschiebung.

Angriff im sächsischen Borna: Steine auf Flüchtlingshilfe-Verein

In der Kleinstadt attackieren Unbekannte in der Nacht den Verein „Bon Courage“. Erst vor kurzem hatte es einen Angriff auf ein multikulturelles Zentrum gegeben.

Petra Pau über rechten Terror in Freital: „Wir haben ein größeres Problem“

Der Generalbundesanwalt sollte bei rechtem Terror schneller eingreifen, sagt Petra Pau. In Deutschland gebe es eine Situation wie Anfang der 90er-Jahre.

Ermittlungen gegen Nazis in Freital: Mal zuständig, mal Zeichen setzen

Der Generalbundesanwalt geht in bestimmten Fällen gegen rechte Gewalttäter vor – in Freital, weil feste Strukturen angenommen werden.

Kommentar Festnahmen in Freital: Herrn Frank sei Dank

Gefahr erkannt: Das Eingreifen des Generalbundesanwaltes in Freital ist ein wichtiges Signal für die deutsche Demokratie.

„Bürgerwehr“ in Freital: Applaus für Ermittlungen

Nach einem taz-Bericht: Politiker begrüßen die Terrorermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen eine Freitaler Neonazi-Gruppe.

Übergriffe gegen Asylbewerber: Warum Sachsen?

Über zwei Jahrzehnte erzkonservatives Lebensgefühl: Das Bundesland führt die Statistiken zu fremdenfeindlichen Straftaten an.

Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt: Land der Rechtsaufsteher

In Sachsen-Anhalt schwächelt zwar die NPD, nicht aber deren extremistisches Gedankengut. Die Partei erodiert im Schatten der AfD vor sich hin.

Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte: Sprengstoff, Brände, Mordversuche

Die Gewalt gegen Flüchtlinge eskaliert. Ermittler zählen immer mehr Angriffe mit Sprengstoff auf Unterkünfte – allein neun im letzten Quartal 2015.

Brandanschläge auf Unterkünfte 2015: Hundertzweiundzwanzig Mal Hass

Mindestens 122 Brandanschläge wurden 2015 auf Unterkünfte für Geflüchtete verübt. Im Schnitt jeden dritten Tag einer. Eine Liste.

Essay Rechtsextremismus in Deutschland: Der Terror ist schon da

Es hagelt Ausschreitungen mit Ansage: Die rechte Szene setzt wieder auf eine Politik der Gewalt. Die ist weder neu noch war sie unvorhersehbar.