taz.de -- Gesundheitsschäden nach Atomunfällen: Nuklearer Gedächtnisschwund
Krankheiten und Erbschäden: Die Ärztevereinigung IPPNW warnt davor, die Gesundheitsgefahren der Atomkraft zu verdrängen.
Berlin taz | Krankheiten und Erbschäden durch die atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima werden nach einem neuen Report der atomkritischen Ärzteverbindung IPPNW deutlich unterschätzt oder verharmlost. Nicht nur die starke Strahlung beim Unfall selbst ist eine Gefahr.
Inzwischen sei belegt, dass auch dauernde geringe Dosen, die sogenannte Niedrigstrahlung, „wesentlich gefährlicher ist als bislang angenommen“, sagte am Mittwoch Angelika Claussen, Vizepräsidentin der Internationalen Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs (IPPNW). In Japan gebe es nach dem GAU im AKW Fukushima Daichi 2011 einen „besorgniserregenden Anstieg der Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern“.
Der neue Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima“ warnt aus medizinischer Sicht vor einem „Schlussstrich unter die Akten“. Nicht einmal die Endlagerkommission des Bundes sei an Strahlenwerten im Umfeld von Atomanlagen interessiert, hieß es.
Nach Tschernobyl seien die Krebsfälle in Weißrussland, Russland und der Ukraine rasant gestiegen, auch in Deutschland habe es mehr Totgeburten und Missbildungen gegeben. Von den etwa 850.000 „Liquidatoren“, die in Tschernobyl bei den Aufräumarbeiten eingesetzt wurden, seien bereits etwa 110.000 gestorben. In Japan gebe es 115 Kinder mit Schilddrüsenkrebs, wo statistisch nur ein solcher Fall zu erwarten sei.
Zweifelhafte Untersuchungsmethoden
Informationen über das Gesundheitsrisiko Atomkraft würden immer noch unterdrückt oder durch gezielte Untersuchungen manipuliert. „Das Motto lautet oft: Was wir nicht suchen, können wir nicht finden“, sagte Claussen. So würden in Fukushima nur Kinder und Angestellte des AKW-Betreibers Tepco untersucht, nicht aber der Rest der Bevölkerung oder Arbeiter von Subunternehmern. Die Entwarnungen der Atombehörde IAEO und der UN-Agentur UNSCEAR, die nur geringe Belastungen der Menschen in Japan sehen, nannten die Atomkritiker der IPPNW „unwissenschaftlich und unseriös“.
Das doppelte Jubiläum begehen die Atomkritiker vom 26. bis 28. Februar mit einem Kongress in Berlin. Experten aus Russland, Japan und den USA debattieren über die Folgen von Tschernobyl und Fukushima.
17 Feb 2016
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Dort, wo nach der Katastrophe evakuiert wurde, leben heute Wölfe, Pferde, Elche und Biber. Es gibt sogar Pläne für ein Biosphärenreservat.
Die weißrussische Nobelpreisträgerin und die Vorsitzende der EU-Grünen reden über den GAU, Merkel und den Umgang mit der Flüchtlingssituation.
Am 26. April 1986 explodierte das sowjetische AKW Tschernobyl. Seitdem steht „Atom“ weltweit für „Gefahr“. Was damals geschah.
Cornelia Hesse-Honegger zeichnete nach Tschernobyl mutierte Insekten. Von Wissenschaftlern wurde sie dafür zunächst belächelt. Heute geben ihr viele recht.
Die Zusammenarbeit ukrainischer und russischer Strahlenforscher ist gestört. Auch die archivierten Daten sind nicht mehr für alle verfügbar.
Nach etlichen Sitzungen soll der Bericht des Gremiums im Juni fertig sein. Die Standortkriterien sorgen für Streit unter den Kommisionsmitgliedern.
Der Staat muss einen hohen Preis von Akw-Betreibern verlangen. Denn die brauchen dringend eine Einigung bei den Endlagerkosten.
L‘Amie bietet eine Police für atomare Unfälle an. Sie kostet bis zu 100.000 Euro. Die Anti-Atom-Bewegung hält diese Summe für einen schlechten Witz.
Thomas Hirschhorn hat Ruinen in die Bremer Kunsthalle gebaut. Für ihn sind sie Zeichen kulturellen, ökonomischen und politischen Versagens.
Hiroe Kamada war drei Jahre alt, als die Bombe fiel, Takako Kotani sechs. Heute kämpfen sie gegen die Atomkraft.
Die Langzeitstudie zu den Leukämieerkrankungen von Atomarbeitern zeigt: Auch Niedrigstrahlung löst Krebs aus.
Japans Regierung erklärt Gebiete in der Nähe des Unglücksreaktors für sicher – obwohl die Strahlung den Grenzwert ums Zehnfache übersteigt.