taz.de -- Retrospektive auf der Berlinale: Uns trennt kein Abgrund
Spannender Systemvergleich: das Sonderprogramm „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“ bei der diesjährigen Berlinale.
Zufällig findet ein Mann auf der Straße einen Brief. Aus Pflichtbewusstsein will er das Fundstück dem Adressaten überbringen. Dafür nimmt er eine Reise über den Ozean, durch Kriegs- und Krisengebiete hindurch auf sich. Zuletzt hat seine Suche Erfolg. Und er muss sterben, denn im Brief steht sein Todesurteil. Basierend auf diesem kafkaesk angehauchten Plot entwickelt sich ein wildes Nummernprogramm, das sehr bald jede Handlungslogik, Psychologie und Chronologie hinter sich lässt.
Der Spielfilm „Der Brief“ kam 1966 in die bundesdeutschen Kinos. Es handelt sich um den vielleicht wildesten und verrücktesten Beitrag der diesjährigen Berlinale. Der aus Jugoslawien nach München emigrierte Regisseur Vlado Kristl (1923–2004) verstand das Filmemachen als angewandte Anarchie.
Mehrere seiner in Zagreb entstandenen Kurzfilme waren behindert oder verboten worden. Als er in der Bundesrepublik eintraf, befand sich die dortige Filmszene gerade im Umbruch von „Papas Kino“ zum „Jungen Deutschen Film“. Eine Experimentalfilmszene gab es noch nicht.
Doch der mit dem Manifest von Oberhausen 1962 angeschobene Generationswechsel trug erste Früchte. Damals standen jene Filmemacher in den Startlöchern, die später das Kino Westdeutschlands prägen sollten. Bald wurde die Bewegung institutionalisiert, es entstanden Strukturen, die bis heute Bestand haben. Für einen Anarchisten wie Vlado Kristl war darin kein Platz mehr.
Das getrennte Deutschland
1966 konnten Alexander Kluge, Ulrich Schamoni, Edgar Reitz und Volker Schlöndorff jeweils ihre Debüt-Langfilme vorlegen. Diese Werke heute zu sehen vermittelt eine Frische und Neugierde, wie sie später von diesen Filmemachern nur selten wieder erreicht wurde.
Auffällig, dass hier durchweg Situationen beschrieben wurden, bei denen junge Menschen mit sich selbst über ihren Platz in der Gesellschaft uneins sind. Nur Schlöndorff kleidet diese Orientierungssuche bei seiner Robert-Musil-Adaption „Der junge Törless“ in ein historisches Gewand, die anderen Stoffe spielen in der Gegenwart.
Schamoni erzählt in „Es“ die Geschichte einer verschwiegenen Schwangerschaft, Reitz in „Mahlzeiten“ von den Problemen eines Paares mit rasch wachsender Kinderschar. Kluge bewältigt mit „Abschied von gestern“ komplexere Zusammenhänge: er schafft es, Brücken zwischen den getrennten Teilen Deutschlands sowie zur Vergangenheit zu schlagen.
Seine strauchelnde Heldin Anita hat jüdische Wurzeln, sie flieht von Leipzig in den Westen, gerät hier jedoch zusehends in Schwierigkeiten und landet schließlich im Knast. Gleich zu Beginn des Films erscheint eine Texttafel mit dem programmatischen Motto „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“.
In der DDR hatte sich die Lage bereits im Dezember 1965 drastisch verändert. Auf dem berühmt-berüchtigten „11. Plenum“ fand eine eben noch vergleichsweise liberale Kulturpolitik ihr jähes Ende. Schon im Oktober war die Beat-Musik verboten worden, nun traf es die Literatur und vor allem das Kino.
Zwei Drittel aller in der Endfertigung befindlichen bzw. schon fertiggestellten Defa-Spielfilme wurden abgebrochen oder verboten. Von diesem Eingriff sollte sich die ostdeutsche Filmkunst nie wieder erholen. Gerade hatte es noch so ausgesehen, als könne auch in der DDR wie in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion eine „Neue Welle“ einsetzen – nun war plötzlich der Anschluss an die Weltfilmkunst verspielt.
Frank Beyers „Die Spur der Steine“ macht bis heute dieses Aufbruchsgefühl nachvollziehbar. Nie zuvor (und auch danach nicht mehr) war der Umgang mit der Partei und ihren Repräsentanten so respektlos. Nur drei Tage lang wurde dieser Film gezeigt, dann verschwand er nach inszenierten Krawallen für fast 25 Jahre aus den volkseigenen Kinos.
Das Jahr 1966 wurde für die Defa speziell und für die DDR insgesamt zum „schlimmen Jahr“ (Ralf Schenk). Durch die Retrospektive werden die damals geschlagenen Wunden als bis heute nachwirkende Narben sichtbar gemacht. Einige der inkriminierten Filme – wie der grandiose „Jahrgang 45“, der einzige Spielfilm des renommierten Dokumentarfilm-Regisseurs und Malers Jürgen Böttcher – werden sowohl in der zensierten als auch in der rekonstruierten Fassung gezeigt.
Auch „Karla“ von Hermann Zschoche ist in zwei Varianten zu sehen. Diese Gegenüberstellung lässt Rückschlüsse auf die Absichten der Kulturbürokratie zu, aber auch auf die verzweifelten Versuche der Filmemacher, ihre Arbeiten doch noch vor dem Verbot zu bewahren. Verbale Äußerungen der Helden etwa wurden nachträglich entschärft oder Außenaufnahmen mit allzu trist wirkenden Stadtansichten entfernt.
Zensur und Selbstzensur
Zensur und Selbstzensur gingen ineinander über. Besonders perfide wurde gegen den Kurz-Dokumentarfilm „Es genügt nicht 18 zu sein“ vorgegangen. Regisseur Kurt Tetzlaff hatte darin das Sujet des Arbeiterporträts – die quasi reinste Ausformung des Sozialistischen Realismus – vom Kopf auf die Beine gestellt. Statt entrückter proletarischer Heroen, die sich in permanenter Planübererfüllung dem Kommunismus nähern, zeigte er gänzlich unheldische, demotiviert im Schlamm wühlende Mitglieder einer Jugendbrigade, die ein Ferkel als Maskottchen halten und nach Feierabend Rock ’n’ Roll tanzen.
Im ausladenden Cinemascope-Format gedreht, mit einem ironischen, von Manfred Krug gesprochenen Kommentar versehen, wirkt dieser Film derart DDR-untypisch, dass man die Empörung der Zensoren fast schon verstehen kann. Sie verboten nicht nur den Film, sondern entrissen ihn seinem Urheber und schnitten ihn komplett um. Er wurde um mehr als die Hälfte gekürzt und fand dann als Vorfilm unter dem biederen Titel „Guten Tag – das sind wir“ Verwendung.
Kurzfilme wurden in den Kinos von DDR wie BRD als Vorprogramm der Hauptfilme eingesetzt; in den Archiven gibt es einen immensen Fundus, der bislang kaum systematisch erforscht wurde. Deshalb sind auf diesem Gebiet noch die meisten Entdeckungen zu machen. In der Retrospektive werden neben einigen Kurzfilmen als Vorfilme erfreulicherweise noch sieben spezielle Programmblöcke mit kurzen und mittellangen Produktionen gezeigt (teilweise in Ost-West-Mischung).
Auch bei den westlichen Kurzfilmen wird der Schlüsselcharakter des Jahres 1966 deutlich. Dieses erweist sich als ein wichtiger Augenblick des Herantastens und des spielerischen Ausprobierens – kurz vor der Ausformulierung von Schulen, Stilen und Statements, auch vor der politischen Radikalisierung und der damit verbundenen ideologischen Einengung. Anhand der noch „unschuldig“ wirkenden Etüden von Michael Klier, Werner Nekes, Harun Farocki, Jeanine Meerapfel, Helke Sander oder Ula Stöckl kündigt sich der bevorstehende Paradigmenwechsel spürbar an.
Es stellt sich als hochspannendes Experiment heraus, Filme jenes Jahres aus beiden Teilen Deutschlands nebeneinanderzustellen. Wie schrieb sich Zeitgeschichte in die Filmgeschichte ein? Wo gab es noch Gemeinsamkeiten in der Sprache, auf welche Weise drifteten die filmischen Formen bereits auseinander? Spätestes seit dem Bau der Mauer 1961 war die politische, wirtschaftliche und letztlich mentale Auseinanderentwicklung zwischen West und Ost nicht mehr zu leugnen. Dennoch gibt es in den Filmen beider deutscher Staaten noch formale und inhaltliche Schnittmengen. Erst danach erfolgte die bis 1990 anhaltende und stetig zunehmende, gegenseitige Entfernung.
Retrospektive „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“. Die Filme laufen bis 21. Februar im Cinemaxx 8, der Deutschen Kinemathek und im Zeughauskino
11 Feb 2016
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