taz.de -- Ein Jahr „Minsk II“ in der Ostukraine: Vermintes Terrain, verlorenes Land

Von „Neurussland“ ist keine Rede mehr – aber Frieden finden die Menschen nicht. Die Umsetzung von „Minsk II“ kommt nach einem Jahr kaum voran.
Bild: 4. Februar: prorussische Rebellen beim Manöver rund 70 Kilometer von Kiew entfernt.

Kiew taz | Als im Frühjahr 2014 um Donezk der Krieg tobte, zog sich die Frontlinie mitten durch Marinas Familie. Die damals 21-jährige blonde Büroangestellte ließ sich mit bewaffneten Kämpfern der „Volksrepublik“ fotografieren und berichtete von Raketenangriffen der Regierungstruppen auf ihr Nachbarhaus. Ihre Mutter hingegen zog aus der ostukrainischen Metropole fort, zu ihrer eigenen Mutter nach Odessa. Sie sei für die Ukraine, mit der „Volksrepublik Donezk“ wolle sie nichts zu tun haben, erklärte die Mutter damals.

Marina sammelte Spenden für die Kämpfer der „Volksrepublik“, engagierte sich für das von den Separatisten organisierte Unabhängigkeitsreferendum, arbeitete bei der Stadtverwaltung von Donezk und träumte von „Neurussland“, wie das Gebiet damals im Hinblick auf einen möglichen Anschluss an Putins Russland genannt wurde.

Anderthalb Jahre sprachen Mutter und Tochter nicht mehr miteinander. Heute drehen sich Marinas Facebook-Posts nur noch um ein Thema: das Donezker Nachtleben mit seinen Bars und Wasserpfeifen. Krieg – das interessiert sie nicht mehr. Aber die Wunden, die er gerissen hat, sind nicht verheilt. Während sich die Menschen der Ukraine vom Krieg allmählich innerlich verabschieden, stehen sich die Konfliktparteien weiterhin unversöhnlich gegenüber.

In der weißrussischen Hauptstadt Minsk hatten sich am 12. Februar 2015 die Ukraine, Russland, die OSZE und die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk auf ein 13-Punkte-Paket geeinigt: ein Waffenstillstand für das umkämpfte Gebiet Donbass in der Ostukraine, der Rückzug schwerer Waffen von der Front, lokale Selbstverwaltung der Separatisten, Kommunalwahlen, die Amnestie von Kämpfern, die Freilassung von Kriegsgefangener.

Ernüchternde Bilanz

Es wurde auch ein Ende der Kiewer Wirtschaftsblockade der Separatistengebiete versprochen und im Gegenzug die Wiederherstellung der ukrainischen Regierungskontrolle über die Grenze zwischen den Separatistengebieten und Russland, über die Waffen und Militärs an die Front gelangt waren.

Ein Jahr später ist die Bilanz ernüchternd. Bereits kurz nach seiner Unterzeichnung wurde „Minsk II“ gebrochen. Das ukrainische Militär musste nach heftigen Kämpfen den auf drei Seiten von Rebellengebiet umgebenen, strategisch wichtigen Verkehrsknotenpunkt Debalzewo aufgeben. Hunderte Menschen starben im „Kessel von Debalzewo“ in einer der heftigsten Schlachten des gesamten Kriegs.

Vor diesem Hintergrund stockte auch die weitere Umsetzung von „Minsk II“. Bereits am ersten Tag nach Beginn der Waffenruhe sollten Gespräche über Wahlen im Donbass „auf Grundlage der ukrainischen Gesetzgebung“ aufgenommen werden. Doch ohne Absprache mit Kiew haben Lugansk und Donezk stattdessen für den 21. Februar und den 20. April 2016 eigene Wahlen angesetzt.

Damit sind auch alle anderen Punkte fraglich geworden. Denn einen Tag nach den Regionalwahlen soll die Ukraine wieder ihre Staatsgrenze zu Russland unter Kontrolle bekommen. Angesichts der Haltung der Machthaber im Donbass möchte man in Kiew nun die Reihenfolge ändern: zuerst die Grenze und dann Wahlen.

Zweidrittelmehrheit derzeit nicht vorstellbar

Die in Minsk vereinbarte Verfassungsänderung, die eine Dezentralisierung im Donbass ermöglichen soll, ist in der Ukraine sehr umstritten. Bei einer ersten Lesung eines von Präsident Petro Poroschenko eingebrachten Gesetzes dazu wurden bei Protesten vor dem ukrainischen Parlament am 31. August 2015 drei Polizisten getötet. Nur knapp erhielt der Poroschenko-Entwurf eine Mehrheit; die eigentlich nötige Zweidrittelmehrheit für eine Autonomieregelung für den Donbass ist derzeit nicht vorstellbar.

Minsk II sieht auch die Freilassung aller Gefangenen vor. Die Realität sieht anders aus, wie der Fall Jewgeni Tschudnezow zeigt. Der gefangengenommene Kämpfer des ukrainischen Freiwilligenbataillons „Asow“ steht in Donezk vor Gericht, die Staatsanwaltschaft fordert die Todesstrafe. In erster Instanz war der Ukrainer bereits zu 30 Jahren Haft verurteilt worden. Die Verhängung der Todesstrafe in der Berufung ist nicht ausgeschlossen.

Sogar die Menschenrechtsbeauftragte der „Volksrepublik Donezk“, Darja Morosowa, schließt Hinrichtungen von Gefangenen nicht aus. Die „Volksrepublik Donezk“, so Morosowa, habe allerdings gar keine Kriegsgefangenen mehr, nur Angeklagte.

Mit dem Status quo abgefunden

Der Kiewer Politologe Wladimir Fesenko verteidigt das Abkommen aus pragmatischen Gründen. „Auch wenn Minsk II weitgehend nicht umgesetzt wird – es gibt keine Alternative“, sagt er. Immerhin wurde ein, wenn auch brüchiger Waffenstillstand erzielt, die OSZE-Kontaktgruppe installiert, zahlreiche Kriegsgefangene seien tatsächlich freigekommen und schweres Geschütz zurückgezogen worden. Mehr sei wohl nicht drin, aber: „Minsk II hat einen großen Krieg verhindert.“ Deswegen müsse die nachhaltige Umsetzung des Waffenstillstands oberste Priorität haben.

Die internationalen Garanten des Abkommens sind realistisch. Ende Dezember 2015 verständigten sich die Staatschefs von Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine auf eine Verlängerung des Minsk-Prozesses. Jede Seite scheint sich mit dem Status quo abzufinden. Die Regierung in Kiew weiß, dass sie tief in die Tasche greifen müsste, sollte sie jemals die Kontrolle über die zerstörte Region zurückgewinnen. Die Separatisten im Osten wissen, dass sie sich nur im Konflikt mit Kiew profilieren können; im Frieden wären sie abgemeldet.

Nur die Kriegsgegner warten vergeblich auf ein Ende des „eingefrorenen Konflikts“. Als der linke Aktivist Enrique Menendez, in Donezk geborener Sohn spanischer Antifaschisten, auf Facebook von der Rückkehr der Normalität und der Heimkehr vieler geflüchteter Bewohner schrieb, reagierten die Machthaber von Donezk postwendend. Eines Nachts Anfang Februar setzten sie den Aktivisten im Niemandsland an der Waffenstillstandslinie aus.

Von dort musste sich Menendez auf eigene Faust auf die andere Seite durchschlagen. Durch Minenfelder.

12 Feb 2016

AUTOREN

Bernhard Clasen

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