taz.de -- Übergriffe auf Frauen in Hamburg: „Handlungsspielraum war begrenzt“

Die Hamburger Polizei war von den Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht überrascht. Mittlerweile zählen die Beamten 205 Strafanzeigen von 306 Opfern.
Bild: 60.000 BesucherInnen verbrachten die Silvesternacht auf dem Hamburger Kiez.

Hamburg taz | Die Hamburger Polizei hat am Donnerstagabend eingeräumt, von den massiven sexuellen Übergriffen von Männergruppen in der Silvesternacht auf der Großen Freiheit auf St. Pauli überrascht worden zu sein. Das erklärte die Einsatzleiterin und Chefin der Davidwache, Cornelia Schröder, im Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. Das Gedränge sei so groß gewesen, „dass der Handlungsspielraum der eingesetzten Kräfte sehr begrenzt war“.

Inzwischen liegen der Polizei 205 Strafanzeigen von 306 Opfern vor. Die betroffenen Frauen hätten die Täter, Kripo-Chef Frank-Martin Heise zufolge, fast ausnahmslos als „Südländer“ oder „Nordafrikaner“ beschrieben. Alle gemeldeten Übergriffe ereigneten sich auf der Großen Freiheit, einige wenige am Jungfernstieg.

Wegen des großen Gedränges hätte zudem die Gefahr bestanden, dass unter den 60.000 alkoholisierten KiezbesucherInnen Panik ausbricht. Aus diesem Grund hatte Schröder zeitweilig den Zugang zur Großen Freiheit mit einer Polizeikette absperren lassen. In der Nacht selbst habe es Schröder zufolge keinerlei Hilferufe gegenüber ihren Beamten oder über den Notruf gegeben.

„Vom Ausmaß der Übergriffe hatten wir in der Nacht keine Kenntnis“, so Schröder. Bis zum nächsten Morgen seien lediglich vier Anzeigen eingegangen, in denen neben einem geklauten Handy auch ein sexueller Übergriff eine Rolle gespielt haben soll. Die Polizei wertete das zunächst als kaum ungewöhnlich.

Dass die Polizei das neue Phänomen erst später als solches wahrgenommen habe, betonte auch der neue Vizechef des Landeskriminalamtes, Frank-Martin Heise. Erst im Verlauf des nächsten Wochenendes seien viele Taschendiebstähle angezeigt worden, wovon 14 Straftaten einen sexuellen Bezug zur Neujahrsnacht gehabt hätten. Erst nach einem Zeugenaufruf verzeichnete die Polizei eine deutlich steigende Zahl von Anzeigen.

Das hätte zur Einberufung einer speziellen Ermittlungsgruppe geführt, sagt Heise. Die 26-köpfige Soko hat inzwischen acht Tatverdächtige mit Migrationshintergrund ermittelt. Darüber hinaus hat sie noch eine Gruppe Nordafrikaner im Visier. Unter ihnen: „Flüchtlinge, aber auch Tatverdächtige, die schon seit Jahren in Hamburg wohnen“, sagt Heise. Zu allen namentlich bekannten habe die Polizei Kontakt aufgenommen und eine Opfernachsorge initiiert.

Wegen der geklauten Handys sei eine Funkzellenauswertung angeordnet worden, so Heise. Die Suche könnte schwierig werden: Im Tatzeitraum waren in dem Bereich 125.000 Handys unterwegs.

Während Innensenator Michael Neumann (SPD) ankündigt, dem Rechtsstaat durch konsequente Strafverfolgung Respekt zu verschaffen, erklärte eine Expertin der Justizbehörde, dass es wegen des laschen Sexualstrafrechts schwer werde, die Taten zu verfolgen.

15 Jan 2016

AUTOREN

Kai von Appen

TAGS

Silvester
Übergriffe
Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
Hamburg
Reeperbahn
Diebstahl
Sexuelle Freiheit
sexuelle Belästigung
Köln
Wolfgang Albers
Sexuelle Gewalt
Köln
sexuelle Belästigung

ARTIKEL ZUM THEMA

Medien über Kriminalität in NRW: Das konstruierte Staatsgeheimnis

Die „Welt“ behauptet, Politiker würden Straftaten von Nordafrikanern vorsätzlich verheimlichen. Klingt unglaublich? Stimmt auch nicht.

Kommentar Sexuelle Belästigung: Übergriffe nicht bagatellisieren

In Hamburg können Frauen ohne Angst auf die Straße gehen. Das soll so bleiben und dafür muss es möglich sein, Übergriffe genau zu benennen.

Sexueller Spießrutenlauf: Grapscher im Linienbus

Eine junge Frau soll Sonntagfrüh von bis zu 40 Männern im Bus belästigt worden sein. Fahrerin hielt nicht. Polizei berichtet von weiteren Fällen am Wochenende.

Politik reagiert auf Gewalt zu Silvester: Welche Konsequenzen nun folgen

Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht werden die Rufe nach schnellerer Abschiebung lauter. Bundestag und Parteien debattieren.

Debatte Rausschmiss Kölner Polizeichef: Richtiger Schritt, pauschales Urteil

Wolfgang Albers‘ Versetzung in den einstweiligen Ruhestand war unvermeidlich. Aber Albers hat nicht alles falsch gemacht.

Hamburger Ereignisse an Silvester: „Die Frauen beschreiben eine sehr bedrohliche Situation“

Es melden sich immer mehr Frauen, denen auf dem Kiez sexuelle Gewalt angetan wurde. Polizeisprecher Jörg Schröder über Stand der Ermittlungen.

Gewaltserie in der Silvesternacht: Mehr als hundert Strafanzeigen

Nach den Übergriffen auf Frauen am Kölner Hauptbahnhof haben die Behörden drei Verdächtige ermittelt. Es liegen mehr als hundert Anzeigen vor.

Belästigung auf dem Kiez: Sex-Übergriffe durch Antänzer

Männergruppen haben Silvester in der Großen Freiheit Frauen zur Ablenkung sexuell belästigt, damit ihre Komplizen sie bestehlen konnten.