taz.de -- Terror in der Türkei: Der lange Arm der dunklen Mächte

Nach dem Attentat in Istanbul bombardiert die Armee Stellungen des „Islamischen Staates“ in Syrien und im Irak – vom eigenen Territorium aus.
Bild: Trauer mit den Angehörigen der Opfer in Istanbul

Istanbul taz | Auf den ersten Blick schien alles klar. In Rekordgeschwindigkeit präsentierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstagmittag eine Stunde nach dem Attentat auf die deutsche Touristengruppe in Istanbul einen Syrer als Täter. Wenig später hieß es, der Mann sei Mitglied des „Islamischen Staates“ (IS).

Schnell wurden diese Angaben präzisiert. Man kenne die Identität des Mannes, weil er sich am 5. Januar in einem Migrationszentrum für syrische Flüchtlinge habe registrieren lassen, wobei seine Fingerabdrücke gespeichert wurden. Wenig später fand sich am Tatort auch ein Ausweis, der auf den Namen Nabil Fadli lautet und dem Attentäter gehört haben könnte. Mittlerweile berichtet die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak, die Familie von Fadli sei schockiert. Sie habe ihren Sohn für tot gehalten.

Angeblich soll der Mann sich 2012 dem IS in Syrien angeschlossen haben. So schnell diese Erkenntnisse über den mutmaßlichen Attentäter präsentiert wurden, so schnell wurden auch erste Festnahmen von möglichen Mittätern gemeldet. Bis Donnerstagmittag waren es sieben.

Doch die bislang veröffentlichten Informationen der Regierung lassen viele Fragen offen. Als Erdoğan nach dem Attentat sofort von einem syrischen Täter sprach, fragte sich alle Welt, woher er das so schnell wissen konnte. Hatte der türkische Geheimdienst, der laut Hürriyet kurz zuvor vor Anschlägen in Istanbul gewarnt hatte, den Mann bereits im Auge? Hat die Polizei versäumt, ihn festzunehmen?

Nein, sagt Innenminister Efkan Ala, der Mann habe auf keiner Fahndungsliste gestanden, man habe ihn nur anhand der Fingerabdrücke identifizieren können. Woher hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu dann aber am Dienstagnachmittag die Information, der Mann habe sich 2012 dem IS angeschlossen?

Und warum soll ein IS-Selbstmordattentäter sich wenige Tage vor seiner Tat bei der Migrationsbehörde registrieren lassen und dabei seine Fingerabdrücke abgeben? Das Vorgehen der türkischen Regierung erinnert fatal an das Verhalten nach dem schweren Attentat auf Friedensdemonstranten in Ankara, bei dem im vergangenen Oktober 102 Menschen getötet wurden.

Auch dort wurden die Namen und Identitäten der beiden Selbstmordattentäter bereits kurz danach bekannt gegeben – zwei junge Männer, die zu einer IS-Gruppe in der Türkei gehört haben sollen, die seit Langem von der Polizei intensiv beobachtet worden war.

Warum das Attentat trotzdem nicht verhindert werden konnte und wer letztlich die Attentäter losgeschickt hatte, ist bis heute unklar. Außerdem hat der IS sich zu dem Attentat in Ankara nie bekannt; auch zum Selbstmordattentat in Istanbul gibt es bis jetzt keine Erklärung des IS. Trotzdem ließ die Regierung am Donnerstag das erste Mal überhaupt Stellungen des IS in Syrien und dem Irak massiv mit Artillerie und Panzern beschießen. Angeblich wurden dabei 200 IS-Kämpfer getötet.

Ein neuer Propagandacoup

Nach dem Anschlag in Ankara wartete Ministerpräsident Davutoğlu mit einer Theorie auf, die abstrus klang, aber damals während des Wahlkampfs sehr nützlich war. Er sprach von einem „Coktail-Terrorismus“ und suggerierte damit einen Mix von Hintermännern.

Gemeint war: Obwohl die beiden Attentäter bekanntermaßen dem IS nahestanden, soll die kurdische PKK der eigentliche Auftraggeber für den Mord an den 102 Menschen gewesen sein – obwohl alle entweder Mitglieder der kurdischen-linken HDP waren oder ihr nahestanden. Viele AKP-Anhänger haben das trotzdem geglaubt.

Zu einem ähnlichen Propagandacoup setzt Davutoğlu jetzt erneut an. Bei einer großen Pressekonferenz am Dienstagabend, während der er ausführlich über die bisherigen Fahndungserfolge referierte, wurde er bei der Frage nach den Hintermännern des Attentates sehr nebulös. Er sprach von „dunklen Mächten“ in dessen Auftrag der IS-Attentäter gehandelt habe.

Angesichts des Bürgerkrieges mit einem Teil der kurdischen Bevölkerung im Südosten des Landes, kann das nur bedeuten: Wahrscheinlich steckt doch die PKK dahinter. Auch wenn die präsentierten Indizien dagegen sprechen und die PKK im Moment nicht das geringste Interesse daran hat, Deutschland, Europa und den Westen insgesamt gegen sich aufzubringen, wird dieser Hinweis bei den Anhängern der AKP verfangen. Die Suche nach den tatsächlichen Hintermännern bleibt dann, wie schon nach dem Ankara-Attentat, auf der Strecke.

14 Jan 2016

AUTOREN

Jürgen Gottschlich

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