taz.de -- Präsidentschaftswahl in Taiwan: Bloß weg von China

Nach acht Jahren Schmusekurs mit dem Nachbarland sind viele Taiwanesen von ihrer Regierung enttäuscht. Es könnte zum Wechsel kommen.
Bild: Sie könnte die neue Präsidentin werden: Tsai Ing-wen beim DPP-Wahlkampf in Xihu, Taiwan.

Taipeh taz | Hsiu Hsien schüttelt resigniert den Kopf. „Ich bin 74 Jahre alt“, sagt sie. Da habe sie keine hohen Ansprüche mehr an die Politik. Alles, was sie für ihre verbleibenden Jahre wolle, sei Frieden und Stabilität.

Doch genau die sieht sie bedroht, sollte Tsai Ing-wen, die Kandidatin der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) bei der Wahl am kommenden Samstag gewinnen: „Die jungen Leute wissen einfach nicht, wie gefährlich es ist, sich mit Peking anzulegen“, sagt sie. „Sie unterschätzen die Gefahr der kommunistischen Herrschaft, wenn sie die DPP wählen.“

Hsiu Hsien ist Unternehmerin. Als Dreijährige war sie mit ihrer Familie vor den Kommunisten vom chinesischen Festland nach Taiwan geflüchtet. Heute betreibt sie eine Handelsfirma, die Naturkosmetik aus Europa und Australien vertreibt. Damit hat sie ein Vermögen gemacht. Und sie bleibt der nationalchinesischen Regierungspartei Kuomintang (KMT) treu, die in den vergangenen acht in dem Inselstaat an der Macht war. Die KMT sei „immer noch das kleinere Übel“, sagt Hsiu Hsien.

Die Mehrheit ihrer Landsleute auf der Insel sieht das wohl ganz anders: Allen Umfragen zufolge wird die Opposition einen Erdrutschsieg erringen und den neuen Präsidenten stellen. Präziser ausgedrückt: die Präsidentin.

Letzten Umfragen zufolge wollen fast die Hälfte aller Wahlberechtigten der DPP-Spitzenkandidatin Tsai Ing-wen ihre Stimme geben. Der Präsidentschaftsbewerber der Regierungspartei, Eric Chu, liegt weit abgeschlagen bei nicht einmal 16 Prozent.

Kurs der Stärke gegenüber der Volksrepublik China

Tsai, eine Juristin, die in England studiert hat, steht sehr viel mehr als ihr Konkurrent für eine Modernisierung ihres Landes: Sie setzt sich für Innovationsförderung ein, will die Umwelt besser schützen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Vor allem aber: Im Gegensatz zur bisherigen Regierung steht sie für einen Kurs der Stärke gegenüber der Volksrepublik China – und für ein neues taiwanisches Nationalbewusstsein.

Unterstützung findet sie besonders bei jungen Taiwanern: Mehr als zwei Drittel der unter 30-Jährigen wollen der DPP ihre Stimme geben.

Zentral bei dieser Wahl aber ist – wie auch früher schon – die Frage, wie eng das Verhältnis zwischen dem kleinen Taiwan (23 Millionen Einwohner) und dem großen Nachbarn China mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Bürgern sein darf. Dabei ist es nicht nur die schiere Größe, die viele Taiwaner einschüchtert: Das vertrackte Verhältnis geht auf das Jahr 1949 zurück. Damals rissen die Kommunisten die Macht in Peking an sich und machten aus der „Republik“ China eine „Volksrepublik“. Die unterlegenen KMT-Nationalchinesen flüchtete mit Hunderttausenden ihrer Anhängern auf die vorgelagerte Insel Taiwan und errichteten dort zunächst eine Militärdiktatur. Beide – die Kommunisten wie die KMT – behaupteten, ganz China zu vertreten.

Heute genießt die Insel Demokratie und Meinungsfreiheit, während auf dem Festland eine kommunistische Führung mit eiserner Faust versucht, ihre Linie durchzusetzen. Peking betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und duldet den Status quo – will aber unbedingt verhindern, dass die Politiker in Taipeh ihre Insel offiziell für „unabhängig“ von China erklären. Für diesen Fall droht die Pekinger Führung mit Militärschlägen.

Dieser Dauerkonflikt schwelt weiter. Er hat aber beide Seiten in den vergangenen Jahren nicht davon abgehalten, sich umso intensiver wirtschaftlich anzunähern. Und Taiwans KMT-Regierung unter Ma Ying-Jeou hat die Beziehungen in den vergangenen acht Jahren besonders gefördert. Er ließ Direktflüge zu, erlaubte Festlandchinesen Gruppenreisen nach Taiwan und erleichterte es Unternehmern vom Festland, auf der Insel zu investieren. Seine Kritiker fragten, ob sich die Insel angesichts dieser Peking-freundlichen Politik nicht viel zu abhängig vom Festland mache.

Aus gutem Grund: 2015 kamen rund 4 Millionen Festlandtouristen nach Taiwan. Nach den Wirtschaftsabkommen verlegten noch mehr taiwanische Unternehmer ihre Fabriken nach China – und damit Jobs. Zugleich fürchten immer mehr Taiwaner den Ausverkauf ihrer Insel an chinesische Investoren.

Wenn China niest, dann holt sich Taiwan eine Grippe – so groß ist inzwischen die wirtschaftliche Abhängigkeit. Das spüren die Inselbewohner derzeit schmerzlich. Seitdem Chinas Wirtschaft nicht mehr zweistellig wächst, schrammt Taiwan nur knapp an einer Rezession vorbei. Gerade bei jungen Taiwanern gehen die Reallöhne zurück oder sie finden gar keinen Job. Sie sehen sich als Verlierer der China-freundlichen Politik der KMT.

Eine Frage der Identität

Viele Taiwaner hatten in den vergangenen 20 Jahren gehofft, dass sich China nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich öffnet und politisch reformiert. Die Insel hatte es ja selbst vorgemacht: Nach fast 40 Jahren strikter Einparteienherrschaft hob die KMT Ende der achtziger Jahre das Kriegsrecht auf. Sie ließ freie Wahlen zu – eine Entwicklung, auf die KMT nun selbst stolz ist. Taiwan ist heute eine der wenigen echten Demokratien in Asien.

Die Volksrepublik hingegen ist von einer Demokratisierung weiter entfernt als jemals zuvor in den vergangenen 30 Jahren. „Die Hoffnungen auf ein demokratisches Festland sind gerade bei jungen Taiwanern dahin“, beobachtet der Politologie Yu Chen-Hua von der Academia Sinica.

2014 zogen Zehntausende Taiwaner auf die Straße, um gegen ein weiteres Freihandelsabkommen mit China zu protestieren. „Dass Präsident Ma die Beziehungen zu China so stark in den Mittelpunkt gestellt hat, war ein Fehler“, urteilt Politologe Yu.

Längst ist die China-Frage zu einer Frage der Identität geworden. Anders als ihre Eltern und Großeltern, von denen viele noch vom Festland kamen und an eine Wiedervereinigung glauben, identifiziert sich Taiwans junge Generation nicht einmal mehr kulturell mit dem Festland.

Als „Chinesen“ wollen sie sich nicht mehr bezeichnen. Nicht einmal mehr als „Taiwan-Chinesen“. Sie seien „Taiwaner“.

15 Jan 2016

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Felix Lee

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