taz.de -- Hörspiel von Robert Musil: Der Geruch ihrer Bauchfalte
Missbrauch, Muttersöhnchen, Masochismus: Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ läuft als Hörspiel im Radio.
Der junge Zögling Törleß ist nicht nur verwirrt, sondern auch ein arroganter Feigling. Ohne ein Wort des Widerspruchs schaut die Hauptfigur in Robert Musils erstem Roman aus dem Jahr 1906 zu, wie seine Freunde sich an dem Mitschüler Basini vergehen. Dem 34-jährigen Schauspieler Stefan Konarske gelingt es in dem zweiteiligen Hörspiel, den jungen Törleß altersgemäß zu interpretieren. Die lakonische Sprachmelodie steht im krassen Gegensatz zu den Höhen und Tiefen der Geschichte.
Die vier Jugendlichen lernen sich in einer Militärakademie zu Zeiten der k.u.k.-Monarchie kennen. Zu jener Zeit, in der Österreich-Ungarn einen Kaiser und einen König hatte. Am zerbrechlichen Törleß zeigt sich, wie wenig darauf geachtet wurde, wie der strenge Drill der Militärkademien der Entwicklung eines jungen Menschen schaden konnte.
Der Österreicher Robert Musil lässt Törleß einen Spagat zwischen Autoritäten und Anpassung sowie der Bildung der eigenen Persönlichkeit durchleben. Heutzutage dürfen sich Jugendliche freier entfalten. Sie dürfen so wie an der Berliner Rütli-Schule geschehen, ihre Bildungseinrichtung und deren Pädagogen zur Verzweiflung bringen. Das alles zu Gunsten der freien Entfaltung.
Törleß ist eine fragile Persönlichkeit, die noch sehr mit dem Elternhaus verbunden ist. Besonders zu seiner Mutter pflegt er eine enge Beziehung. Bei ihrem Anblick wird sogar erotisches Verlangen in ihm geweckt. Von der Militärakademie schreibt er beinahe täglich Briefe an seine Eltern.
Geschichte fürs Lagerfeuer
Das Hörspiel unter der Regie von Iris Drögekamp wäre bestens für einen Abend am Lagerfeuer geeignet, bei dem die Gesichter mit einer Taschenlampe von unten beleuchtet werden. Dazu trägt auch der auktoriale Erzähler, gesprochen von Michael Rotschopf, bei. Es gibt kaum Musik bis auf einige Sequenzen eines modernen, disharmonischen Streicherensembles. Die Stimmung passt zum Plot des Romans. Er könnte auch einem Teenie-Film aus der heutigen Zeit entstammen. Den Prozess der Selbstfindung kann sich die westliche Jugend heutzutage mehr denn je leisten.
In der Akademie findet Törleß mehr oder weniger Anschluss an eine Gruppe. Seine Kameraden Reiting (Stefano Bernardin) und Beineberg (Manuel Rubey) haben es auf den Schüler Basini abgesehen. Wegen eines Diebstahls, den Basini – gesprochen von Florian Teichtmeister – verübt hat, wird dieser zum Spielball der Gruppe. Sie misshandeln ihn, auch sexuell. Je mehr sich Basini unterwirft, desto mehr werden die Jungen zu ihren grausamen Taten angestachelt.
Törleß sind die Handlungen seiner Kameraden, besonders derer von Beineberg und Reiting, zuwider. Und doch benutzt er die Geschehnisse, um seine Lehren daraus zu ziehen und sich selbst zu finden. Er windet sich um eine Haltung und beobachtet. Letztendlich möchte er selbst erfahren, was an der Qual, die Basini erfährt, die Genugtuung ist, bricht im letzten Moment aber ab. Indem er Basini fragt, warum er das alles über sich ergehen lässt, möchte er sein Gewissen reinwaschen. Aus der Ahnungslosigkeit seinem eigenen Körper gegenüber fängt er irgendwann an, Basini zu hassen.
Widerlicher Egoist
Am Ende verrät sich Törleß auch vor seinen Lehrern, die ihn nicht verstehen. Die Suche nach sich selbst vereinnahmt seine gesamte Identität. Er möchte auch nicht öffentlich zugeben, dass er sich aus den Misshandlungen von Basini eine geistreiche Erkenntnis gewünscht hat. Die Lehrer empfehlen, dass er von zu Hause aus unterrichtet wird. Er lässt sich von seiner Mutter abholen, deren Geruch ihrer Bauchfalte beruhigend auf ihn wirkt. Törleß erkennt, dass er noch sehr mit seinem Elternhaus verbunden ist und noch nicht fähig, zu widersprechen oder seine Werte gegen die mächtigen Charaktere Beineberg und Reiting zu verteidigen.
Musil zeichnet mit seiner Hauptfigur Törleß einen Menschen, der widerlich egoistisch ist und sein Seelenheil über das Wohl anderer Menschen stellt. Dabei weiß er noch nicht einmal, wo er anfangen soll zu suchen. Er kann lediglich sagen, welche Gefühle er durchlebt. Bei der Misshandlung Basinis spürt er mal nichts, mal reist er in eine andere Sphäre.
Törleß ist ein Muttersöhnchen, das an seinem Selbstfindungstrip scheitert. Man würde sich wünschen, dass die Törleße dieser Welt den Mund aufmachen und sich gegen Ungerechtigkeit und widerwärtige Quälerei erheben. Aber der Drang, sich selbst definieren zu können, steht scheinbar über allem.
6 Mar 2014
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