taz.de -- Netzschau Kommunalwahl in der Türkei: „Sich aus der Türkei verpissen“
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat gewonnen, das Internet hat verloren. Was sagt das Internet zu seiner Niederlage?
Immer, wenn in den vergangenen Wochen etwas wichtiges passierte, die ersten kompromittierenden [1][Tonbandaufnahmen auftauchten], die Ministerpräsident die Sperre von [2][Facebook und Youtube androhte] oder seine [3][Drohungen in die Tat umsetzte], reagierten Gegner der AKP im Netz mit Humor. Am Wahlabend war das etwas anders. Trotz der Sperre, die viele zu [4][umgehen wissen], blieben die sozialen Netzwerke ein wichtiges Kommunikationsmittel. Aber angesichts der für die Gegner der AKP [5][enttäuschenden Wahlergebnisse] und mancher befremdlichen Nachricht über den Ablauf der Wahl und der Auszählung war der Ton ein anderer. Eine Top Ten der Wahlnacht und des folgenden Tages:
Platz 10: „In der Wahlnacht waren die sozialen Medien wie am 31. Mai. Jeder reicht Informationen weiter, jeder ist hinter seiner Stimme her“, brachte es der User [6][„Saydam...“] auf den Punkt. Gemeint war der 31. Mai vorigen Jahres, als die Gezi-Proteste zu einer Massenbewegung wuchsen, die großen Sendeanstalten aber in einem Akt von [7][Selbstzensur] nicht darüber berichteten.
Platz 9: Where is my vote? Etliche Bilder dokumentierten den Vorwurf des Wahlbetrugs, zum Beispiel durch Verschwindenlassen von Stimmen oder durch Unstimmigkeiten zwischen den in den Protokollen festgehaltenen Ergebnissen für bestimmte Wahllokale und den offiziellen Ergebnissen. Im Einzelfall ist das schwer zu überprüfen, die Summe der Vorwürfe aber lässt zumindest einzelne Ergebnisse wie das in Ankara anzweifeln.
Platz 8: „Ich bin seit 40 Jahren Atheist, so gottlose Leute wie dieser AKP'ler habe ich noch nie gesehen“, schrieb der User [8][„Where is my mind“]. Noch einer, der die offiziellen Ergebnisse anzweifelt.
Platz 7: „Die Regierungspartei hat eine Glühbirne als Symbol, wir zählen die Stimmen im Kerzenlicht, verfickte Scheiße“, schrieb der User [9][Mıhtar]. Eine Anspielung darauf, dass in etlichen Wahllokalen im ganzen Land während der Auszählung der Strom ausfiel. Viele hielten dies für eine Maßnahme, um die Auszählung oder die Übertragung der Ergebnisse zu manipulieren. Das Ergebnis sah dann – auf Twitter wie auch in der Realität – so aus: Stimmauszählung bei Kerzenlich, wie auf dem Foto oben.
Platz 6: „Sich aus der Türkei verpissen“: Die Ergebnisse lagen noch gar nicht vor, als bei der Seite Ekşi Sözlük, einer sehr populären Seite, die zu den [10][ältesten sozialen Medien der Welt gehört], jemand diesen [11][Thread] eröffnete. Einer von über 2.000 Einträgen, die sich seither dort gesammelt haben: „Das Beste, was man mit diesem beschissenen Land machen kann.“ Nicht immer klingt es so derb. Aber diese Resignation spricht aus vielen Äußerungen.
Platz 5: Nochmal [12][Ekşi Sözlük]. Thema des [13][Threads]: „Zusammenfassung der Türkei in einem Satz“. Eine von mehreren hundert Antworten: „Ein muslimisches Land, ein Land des Nahen Ostens, nichts weiter.“ Eine andere Anwort: „Gott möge jedem Schäfer eine solche Herde schenken.“
Platz 4: Wenigstens bleibt Erdoğans Sohn Bilal ein Quell der Freude. Unter dieses Foto, das ihn mit seinen beiden Schwestern Sümeyye und Esra zeigt, legte der User [14][„Utangaç Adam“] ihm die Worte in den Mund: „Sümeyye, was ich nicht jetzt nicht verstanden habe: „Wo ist Vati jetzt Bürgermeister?“ Bilal gilt seit den veröffentlichen Tonbandmitschnitten als [15][begriffsstutzig].
Platz 3: Die Satireseite [16][Zaytung], die ähnlich funktioniert wie [17][Der Postillon] in Deutschland, meldete: „Agentur Anadolu meldet die Ergebnisse aus New York: Demokraten 19%, Republikaner 18%, AKP 64 Prozent.“ Die halbstaatliche Nachrichtenagentur Anadolu sorgte während der Auszählung immer wieder für Verblüffung.
Platz 2: „Ich sage nicht, mach es nicht. Du kannst es als Hobby ja weitermachen“ lautet eine Redewendung, die man gerne benutzt, um jungen Musikern oder Schriftsstellern nahezulegen, sich vielleicht doch einen anderen Broterwerb zu suchen. [18][Ilkay Burak Arslan] macht daraus: „Ich sage nicht, wählt nicht. Du kannst als Hobby ja weiter wählen. Aber Diktaturen werden nicht durch Wahlen gestürzt.“
Platz 1: „Ok, ist gut, ihr habt gewonnen, öffnet jetzt dieses Twitter wieder“, twitterte der User [19][„Odun Herif“]. Trotz eines [20][Gerichtsurteils] zur Aufhebung der Sperre ist Twitter weiterhin gesperrt. Irgendwie jedenfalls.
Außerhalb der Wertung: Ein Tweet aus [21][Deutschland]: „Die Hälfte der bei mir eingehenden Tweets handelt vom #Tatort, die andere von der Wahl in der #Türkei. #Parallelgesellschaft“
31 Mar 2014
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