taz.de -- Europawahl-Aufruf für Alexis Tsipras: Der? So? Wirklich?

Intellektuelle erklären ihre Unterstützung für Alexis Tsipras. Er stehe für den Kampf der europäischen Linken. Wirklich? Ein Pro und Contra.
Bild: Ist er die Unterstützung der europäischen Links-Intellektuellen wert? Spitzenkandidat der europäischen Linksparteien, Alexis Tsirpas

Der Aufruf

Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs steht Europa an einem Scheideweg. Der gegenwärtigen neoliberalen und autoritären Politik muss dringend Einhalt geboten werden, sonst steht Europa und der Welt eine Katastrophe bevor: der weitere Zerfall der Demokratie, zunehmende Armut und Ungleichheit, Zerstörung der Umwelt, das unausweichliche Erstarken rechtsextremer und faschistischer Kräfte, die ihren Nährboden in der Verzweifelung über Arbeitslosigkeit und Armut finden.

Die Europäische Union muss zu ihren ursprünglichen Ideen von Frieden, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zurückfinden. Ganz allgemein braucht und verdient die Europäische Union einen „New Deal“, der den von Liberalen und Sozialdemokraten verratenen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität eine neue Grundlage verschafft.

Dass Alexis Tsipras, Vorsitzender der griechischen Partei der radikalen Linken, Syriza, für den Vorsitz der Europäischen Kommission kandidiert, ist von großer symbolischer Bedeutung. Griechenland war das Versuchskaninchen in einem groß angelegten neoliberalen Experiment, das zu einer offensichtlichen humanitären Krise geführt hat.

Die Nominierung von Tsipras als Kandidat der Europäischen Linken lässt etwas hoffen, dass dem Neoliberalismus und dem Autoritarismus Einhalt geboten werden können.

Pro

Genau so. Alexis Tsipras ist die Unterstützung der linken Kulturtheoretiker und -schaffenden wert. Sie tun recht daran, dazu einen knappen Aufruf zu veröffentlichen. Die VortänzerInnen der Postmoderne haben symbolisches Kapital zu verlieren, und das interessierte Volk weiß das zu würdigen. Wer gern liest, wird auch den Weg zu ausführlicheren Analysen finden.

Aber es ist Wahlkampf, da ist Verkürzung nicht nur den Partei-Strategen erlaubt. Der Grieche Tsipras ist als Spitzenkandidat der europäischen Linksparteien die Gegenfigur zum Griechenland- und Eurorettungskurs. Dieser wird von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel vorgegeben. Selbst diejenigen aber stempeln Tsipras zur Unperson, die wissen, dass die Troika-Krisenbewältigung die Falschen bestraft.

Dabei werden die Spitzenkandidaten mit doppelter Elle gemessen. Der Konservative Jean-Claude Juncker, diese Marionette Merkels, sagt nur "Wachstum" und "Wohlstand": Niemand stößt sich dran. Der Sozialdemokrat Martin Schulz beklagt - zu Recht - das Auseinanderbrechen Europas: Keiner fragt ihn nach der Rolle seiner Partei. Tsipras aber, der ist bloß, oh pfui, ein Populist. Hier spielt die Symbolpolitik, und darüber weiß die Akademie Bescheid.

Seit Jahrzehnten jammert die Presse, dass die Intellektuellen sich aus der Politik heraushalten, zu feige und zu faul für den tagesaktuellen Kampf ums Bessermachen sind. Nun haben die Abgehobensten von allen einen ganz konkreten Vorschlag: Wählt Tsipras. Dann schreibt an eurer Doktorarbeit weiter. So nimmt man Europa ernst. Ulrike Winkelmann

Contra

Auf keinen Fall. Es mag sein, dass der griechische Spitzenkandidat der europäischen Linken programmatisch gegen Armut und Krise zu bieten hat. Dass er für Linke unwählbar ist, erschließt sich aus dem Text des Global Intellectual Jet Set leicht.

Sie sprechen vom Weltkrieg (I. und II.), von drohender Apokalypse und einem "Scheideweg". Sprechender als das, was sie mitteilen, ist das, was sie verschweigen: das Erbe des Stalinismus, die völkische Totalität, den Holocaust.

Das sind Politiken, für die einer wie Tsipras nicht steht - und seine follower ebenso wenig: individuelle Freiheitsrechte, Minderheitenschutz, demokratische Teilhabe - und eine Wertehaltung, für die Freiheit schlechthin nicht gegen das Soziale ausspielbar ist.

Das Europa der EU hat, wie man beim russisch-ukrainischen Krieg erkennen kann, die Rolle einer Friedensstifterin ausgefüllt, und das tut sie seit ihrer Gründung. "Brüssel" - als Chiffre - hat kein Paradies begründet, sondern eine nicht perfekt funktionierende politische Union. Mit Macken, klar. Diese sind abstellbar. Kein Wunder, dass Millionen Menschen schon ihrer Bürgerrechte wegen gern zur EU gehören wollen. Sie sehen hier Zukunft, nicht Krise.

Diese EU als katastrophischfördernd zu bezeichnen, gehört zum Interpretations- und somit Geschäftsmodell der Tsipras-Edelfreunde: mehr biblisch inspirierte Mahner als echte libertäre Linke. Wollen sie diese Apokalypse? Ersehnen sie das Schlimmste, um in ihren Heilsprophezeiungen wärmer stahlbaden zu können? Jan Feddersen

16 May 2014

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Ulrike Winkelmann
Jan Feddersen

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