taz.de -- Konferenz „Degrowth“ in Leipzig: Wachstum an den richtigen Stellen

Im September soll die Frage nach dem wahren Fortschritt diskutiert werden. Ein Gastbeitrag über ein schon in sich innovatives Treffen.
Bild: Wachsen, weiter wachsen: Baukräne im Europaviertel, Frankfurt/Main.

Fortschritt, Innovation, Wachstum – wer das liest, der denkt: wieder einer dieser Artikel, die nach Förderung neuer Technologien und Wirtschaftswachstum rufen, dem probaten Allheilmittel unserer globalen Probleme. Aber wer sagt eigentlich, dass Fortschritt und Innovation hauptsächlich im technologischen Bereich stattfinden müssen? Und dass Wachstum automatisch als Wachstum der Wirtschaft verstanden werden muss?

Die Assoziationen, die üblicherweise mit Schlagworten wie diesen verbunden sind, hängen stark von unseren kollektiven Erfahrungen ab. Diese sind – wen wundert es angesichts des beschleunigten technischen und materiellen Fortschritts über die letzten Jahrzehnte – vorwiegend technisch und materiell geprägt.

Anhand der weltweiten Zunahme des Treibhausgas-Ausstoßes, von Ressourcenverbrauch, Schädigung der Umwelt bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit und fortlaufender Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich wird allerdings deutlich, dass ein „Weiter so wie bisher“ allein mit „grünen“ Technologien nicht möglich sein wird.

Auch die effizientesten technischen Innovationen werden allein unseren wachsenden Naturverbrauch nicht reduzieren können. Sie entheben uns deshalb nicht der Notwendigkeit, fortschrittlich und innovativ im umfassenden Sinne zu sein. Also unsere geltenden Paradigmen von Grund auf zu hinterfragen, darüber hinauszugehen und bewusst neue Strukturen zu schaffen, die ein gutes Leben für alle innerhalb der gegebenen natürlichen Grenzen ermöglichen.

Der Zwang, der Weg in die Steinzeit?

Hier ist als herausragendes Beispiel der Zwang zu wirtschaftlichem Wachstum zu nennen, der uns zwar in den ökologischen Kollaps führt, auf dem aber unsere gesamte globale Weltwirtschaft, Arbeitsmarkt, Staatshaushalte und sozialen Sicherungssysteme beruhen. Kritikern des Wachstumsparadigmas und Befürwortern einer Postwachstumsgesellschaft wird dann auch prompt vorgeworfen, fortschrittsfeindlich zu sein und die Menschheit zurück ins Mittelalter oder die Steinzeit führen zu wollen.

Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall, setzt man ein Fortschrittsverständnis voraus, das sich nicht auf den technologischen Bereich beschränkt, sondern vor allem eine Weiterentwicklung im ethischen, interpersonellen, gesellschaftlichen und spirituellen Bereich meint. Ein Bereich, der bisher nicht mit dem rasanten Fortschreiten der Technik mithalten konnte. Was dann in diesem Sinne noch zu wachsen hätte, wären nicht monetär messbare Dinge wie Waren und Dienstleistungen, Geld- und Stoffströme, sondern immaterielle Werte wie Empathie, Achtsamkeit und Solidarität.

Die neuen Fragen, die sich stellen

Würden wir uns ernsthaft das Ziel setzten, in demokratischer globaler Solidarität die Grundbedürfnisse aller bei größtmöglicher sozialer Gerechtigkeit, individueller Freiheit und Bewahrung der natürlichen Ressourcen und Ökosysteme zu erfüllen, dann wäre auf einmal sehr viel Raum für Kreativität, Fortschritt und Innovation. Es hieße nicht mehr: Wie können wir es irgendwie schaffen, unsere bestehenden Systeme trotz der multiplen Krisen aufrechtzuerhalten?

Es hieße vielmehr: Was müssen wir ändern? An uns selbst und der Art, wie wir uns organisieren? Wie schaffen wir wirklich suffiziente Lebensstile und eine ausgeglichene Balance zwischen einer ressourcenschonenden, regionalisierten Wirtschaft und intelligenten Technologien, die uns dabei unterstützen, zivilisatorische Errungenschaften zu erhalten und weiterzuentwickeln?

Welche Technologien brauchen wir auch in der Zukunft, und in welchem Maße? Welche müssen wir verbessern oder überhaupt erst entwickeln? Wie können wir überflüssige bestehende Strukturen zurückbauen? Wie organisieren wir soziale Sicherung, demokratische Teilhabe und Geschlechtergerechtigkeit? Wie könnten die Institutionen in einer solchen Gesellschaft konkret aussehen?

Viele Fragen, die auch auf der internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig eine Rolle spielen werden. Hier sollen konkrete kreative und innovative Ansätze aus Wissenschaft, Gesellschaft, Praxis und Kunst vorgestellt, teilweise ausprobiert und vernetzt werden.

Offene Formate auf der Konferenz

Die Konferenz selbst versucht schon im Kleinen, die Werte einer wachstumsbefreiten Gesellschaft zu leben: Sie ist basisdemokratisch organisiert und offen für alle Interessierten unabhängig vom Geldbeutel. Der Teilnahmebeitrag basiert auf Selbsteinschätzung und Solidarität. Leipzigerinnen und Leipziger stellen unter anderem kostenlose private Schlafplätze zur Verfügung und auch das angebotene Essen wird von einer lokalen Kooperative angebaut. Durch interaktive Formate wie Group-Assembly-Process und Open Space können alle die wollen bei Arbeitsprozessen selbst mitmachen.

Wir hoffen, dass die Konferenz viel dazu beitragen wird, eine positive Vision einer Gesellschaft nach dem Wachstum zu erarbeiten und salonfähig zu machen. Als Optimistin glaube ich fest daran, dass alle Menschen letztendlich lieber kooperieren, statt zu konkurrieren, und lieber eine wirklich sinnstiftende Arbeit ausführen, als einfach nur Geld zu verdienen. Es kommt einfach nur darauf an, welche Wahlmöglichkeiten sie für sich sehen. Die Konferenz wird hier sicherlich viele Impulse geben.

Christiane Kliemann ist freie Journalistin, Mitglied im Degrowth-Organisationsteam und engagiert in der Ökodorfbewegung. Zuvor hat sie beim UN-Klimawandelsekretariat und bei der Deutschen Welle gearbeitet.

7 Jun 2014

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