taz.de -- Kämpfe in der Ostukraine: Noch brutaler und unbarmherziger

Nach dem Abschuss einer Militärmaschine droht der ukrainische Präsident mit Vergeltung. In Kiew herrscht Trauer, im Osten Schadenfreude.
Bild: Die Trümmer der abgeschossenen Iljuschin in einem Feld bei Luhansk.

KIEW taz | Zwischen 100 und 200 Aktivisten machen sich am Samstag in Kiew auf den Weg zur russischen Botschaft. Die Demonstranten blockieren die diplomatische Vertretung mit Autoreifen und mitgebrachten Türen, bewerfen sie mit Eiern und Molotowcocktails, kippen Fahrzeuge der Diplomaten um, holen die russische Flagge vom Masten. Das russische Außenministerium protestiert gegen den Angriff.

Die wütende Reaktion in Kiew ist Folge einer weiteren Eskalation im Krieg zwischen Separatisten im Osten und der Regierung. Am Samstag schossen Aufständische um ein Uhr nachts mit Boden-Luft-Raketen ein ukrainisches Militärflugzeug beim Landeanflug auf den Flughafen von Lugansk ab. Alle Menschen an Bord der Iljuschin IL-76 – 40 Soldaten und neun Besatzungsmitglieder – kamen ums Leben.

„Ich bin zu geschockt, um diese Ereignisse hier einfach so zu kommentieren“ erklärt die Kiewer Fotografin Olga Zakrevska der taz. „Was sich hier Russland geleistet hat, ist eine bodenlose Gemeinheit. Wie viel Leid hat dieser Abschuss in so viele Familien gebracht. Und Russland hat die Verantwortung für diesen Raketenangriff auf eines unserer Flugzeuge. Jetzt helfen keine Demonstrationen mehr. Jetzt muss es endlich Sanktionen gegen Russland geben“.

Schadenfroh reagieren hingegen viele Bewohner der Ostukraine. „Das haben sie klasse gemacht, unsere Jungs“, sagt eine Verkäuferin aus Lugansk gegenüber der taz am Telefon. „Größer als meine Trauer über die Toten ist die Freude über die, die von diesen Soldaten nicht mehr getötet werden können“, kommentiert eine Facebook-Nutzerin aus Odessa mit dem Pseudonym „Sea Gull“.

Das abgeschossene Flugzeug habe den Luftraum der Volksrepublik Lugansk verletzt, erklärt die Pressesprecherin der „Volksrepublik Lugansk“, Oxana Tschigrina den Abschuss trocken. „Wir werden auch in Zukunft Verletzungen unserer Grenze mit diesen Mitteln ahnden“, so Tschigrina.

Abbruch der diplomatischen Beziehungen angedroht

Der Abschuss von Lugansk wird den Krieg wohl noch einmal brutaler, gewalttätiger und unbarmherziger machen. In einer Fernsehansprache teilte Präsident Petro Poroschenko am Samstagabend mit, dass die ukrainische Armee nun erstmals zum Gegenangriff übergegangen sei. Elf Ortschaften, so Poroschenko, seien inzwischen von Terroristen „gesäubert“. Den Abschuss nannte Poroschenko einen „zynischen terroristischen Akt, der unbedingt bestraft werden wird“.

Außenminister Andrej Deschtschiza drohte am Sonntag Russland mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Falls Moskau weiterhin zur Verschärfung der Lage beitrage, müsse die Ukraine zu diesem „äußersten Mittel“ greifen, sagte er.

Schon 20 Stunden nach dem Abschuss des Flugzeugs erklärte der kommissarische ukrainische Verteidigungsminister Michail Kowal, in den letzten 24 Stunden seien im Südosten der Ukraine 250 Aufständische getötet worden. Ein Sprecher der Aufständischen der Stadt Gorlowka sagte seinerseits, man habe ein Kampfflugzeug der ukrainischen Armee abgeschossen. Der Pilot habe den Abschuss überlebt und werde derzeit verhört. Vorausgegangen war ein Luftangriff auf das Milizgebäude von Gorlowka, bei dem zwei Männer ums Leben gekommen waren.

Etwa zeitgleich kamen in Mariupol im Gebiet Donezk sieben ukrainische Grenzschützer und drei Soldaten bei einem Angriff von aufständischen Seperatisten ums Leben. Den ganzen Samstag wurden auch Kämpfe um einen Grenzposten in der Nähe von Lugansk gemeldet.

Erschießung von ukrainischen Politikern gefordert

Der Abschluss des ukrainischen Armeeflugzeuges geschah just zu einem Zeitpunkt, an dem der Hass beider Seiten einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Seit Tagen hängt vor dem Gewerkschaftshaus von Odessa, wo jeden Tag Dutzende Anhänger einer Föderalisierung der Ukraine im Gedenken an ihre am 2. Mai bei einem Brand getöteten Gefährten ausharren, ein Plakat, das die Erschießung von ukrainischen Politikern, unter ihnen Petro Poroschenko und Julia Timoschenko, fordert.

Am Freitag wurde bekannt, dass die Gründung einer Spezialeinheit der Polizei geplant ist, die sich fast ausschließlich aus Mitgliedern der rechtsradikalen Partei „Swoboda“ zusammensetzen soll. Gleichzeitig wird im ukrainischen Justizministerium zügig an einem Antrag zum Verbot der Kommunistischen Partei gearbeitet.

Nachdenkliche Stimmen finden zunehmend weniger Gehör. Noch vor einer Woche protestierte die erst kürzlich gegründete „Antikriegsbewegung der Ukraine“ mit 100 Demonstranten in Odessa vor der Wehrbehörde für ein Ende der Kiewer „Antiterroroperation“ wie von Moskaus militärischer Unterstützung der Aufständischen. Jetzt sieht sich deren Sprecher Wjatscheslaw Asarow in der aufgeheizten Stimmung nicht in der Lage, Aktionen zu organisieren. „Die meisten haben einfach Angst“, sagte Asarow zur taz.

Und die Zeichen stehen auf Sturm. In Lugansk trafen am Samstagabend mehrere Busse mit weiteren Aufständischen ein. Man rechnet mit einem Sturm der Stadt. Auch um die Rebellenhochburg Slawjansk wurden am Sonntagmorgen Kämpfe gemeldet.

15 Jun 2014

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Bernhard Clasen

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