taz.de -- Diversität von Geschlechterrollen: XY … ungelöst

60 Geschlechteroptionen stehen Facebook-Nutzern jetzt zur Auswahl. Das war's dann mit dem Zwangsbekenntnis zu „Frau“ und „Mann“ – oder?
Bild: Das Netz ist da schon weiter.

Früher war die Welt übersichtlich. Es gab ARD und ZDF und ein drittes Programm. Heute sind da Bibel TV, Tele5 und Sat.1 Gold. Es gab Vanille-, Schoko- und Erdbeereis. Heute wählt man zwischen Cookies-, Ingwer- und Schlumpfeis.

Früher gab es auch nur zwei Geschlechter, wenigstens in der Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft. Mann und Frau. Doch auch beim Geschlecht ist die Welt bunter geworden. Es gibt Menschen, die sich als pangender, als trans* weiblich oder Butch bezeichnen. Die intersexuell, transsexuell oder geschlechtslos sind.

Die Gesellschaft bildet diese Vielfalt bislang jedoch kaum ab. Zwar kann man seit einem Jahr offiziell eine Art „drittes Geschlecht“ haben, im Geburtenregister auf die binäre Geschlechtszuteilung verzichten und im Pass ein „X“ eintragen lassen. Doch reicht diese dritte Kategorie aus?

Für Facebook nicht. Seit Donnerstag akzeptiert das soziale Netzwerk die Vielfalt der Geschlechter und adelt damit die Gendertheorie. Nutzer aus Deutschland können künftig zwischen 60 Möglichkeiten wählen, wenn sie ihr Geschlecht angeben. Begriffe, die bisher in Seminarräumen verhandelt wurden, dringen damit via Facebook in den Mainstream.

Facebook beruhigt die verständnislosen Gemüter. „Keiner muss das tun“, sagt Tina Kulow. Sie ist die deutsche Stimme von Facebook. Auf der Plattform sollten die Menschen zeigen, wer sie sind. „Zur Identität gehört auch das Geschlecht.“ Jeder Nutzer hat zudem die Kontrolle darüber, wer die gewählte Option sehen kann.

Mehr Verständnis erzeugen

Aber hätten nicht auch drei gereicht und ein offenes Feld? „Das Thema ist extrem sensibel. Trans allein etwa trifft es für viele nicht, deshalb diese große Palette“, sagt Kulow. Es werde sicher Menschen geben, die aufgrund der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten fassungslos sind, die hämisch über die 60 Optionen spotten. „Das ist in Ordnung. Wir stehen hinter dem Projekt. Wenn es etwas mehr Verständnis erzeugt, haben wir etwas erreicht.“

In den USA können die Facebook-Nutzer bereits seit Februar zwischen immerhin 56 Kategorien wählen, in Großbritannien seit Juni zwischen 71. Jede Sprache hat ihre eigenen Nuancen.

Wie in diesen beiden Ländern hat Facebook auch in Deutschland mit Vertretern der Community kooperiert, um die Liste auszuarbeiten, die bei Bedarf erweitert wird. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) beriet Facebook. „Für manche ist das Angebot, entweder ’Mann‘ oder ’Frau‘ anzukreuzen, ausreichend. Viele andere aber empfinden Zweigeschlechtlichkeit als Korsett“, erklärt der Verband. Gendersensible Sprache sei ein Zeichen des Respekts gegenüber Verschiedenheit. „Wir begrüßen, dass Facebook zu diesem Respekt beitragen will.“

Kritiker fürchten, dass der Konzern aus den Genderoptionen Profit schlagen will. Genauere Infos zur Person führen zu gezielterer Werbung. Logisch. Tina Kulow dementiert energisch. „Wir werden diese detaillierten Angaben nicht nutzen. Nicht werblich, nicht wirtschaftlich. Natürlich gibt es Werbung, die sich an Männer und Frauen richtet, die weitere Ausdifferenzierung spielt aber keine Rolle.“ Man werde nicht erheben, wie viele Nutzer von der neuen Möglichkeit Gebrauch machen, habe daher auch keine Erfahrungswerte aus den USA.

Immer noch Verortungszwang

Ein Schritt also, der alle Seiten glücklich macht, ausgerechnet von Facebook? „Grundsätzlich ist die größere Vielfalt besser als der vorherige Zwang, sich auch bei Facebook als ’Mann‘ oder ’Frau‘ einordnen zu müssen“, sagt Anson Koch-Rein. Er ist Gastprofessor am Middlebury College in Vermont mit dem Schwerpunkt Transgender-Rhetorik. Es sei ein positiver Nebeneffekt, dass „alle Nutzer_innen mit einer Vielzahl an Optionen“ konfrontiert werden.

Dennoch kritisiert er Facebook. „Geschlechtervielfalt passt nicht in eine Liste von 2, aber auch nie komplett in eine von 60 Kategorien.“ Ihn stört der neue Verortungszwang. Denn nicht die Fülle der Möglichkeiten ist absurd, sondern das Konzept des Geschlechts selbst.

Warum schafft Facebook das Geschlecht also nicht komplett ab? Es könnte so einfach sein. Statt die Geschichte der Geschlechter fortzuschreiben, schlicht darauf verzichten – ist doch ohnehin alles im Fluss, viel zu individuell für Kategorien. Eine utopische Idee. Denn für Facebook ist die Mann/Frau-Selbstzuschreibung zentral für personalisierte Werbung. Und die Mehrheit der Nutzer wäre wohl auch verwirrt, wenn sie plötzlich geschlechtslos wäre. Und mit denen will es sich Facebook nicht verscherzen.

4 Sep 2014

AUTOREN

Paul Wrusch

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