taz.de -- Nach den Attentaten von Paris: Charlie sein oder nicht sein
Das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ war Teil unserer DNA, sagt der Autor Sélim Nassib. Frankreich fühlt sich erstmals wieder als ein Volk.
Das Attentat gegen Charlie Hebdo ist mit einer Art Angststarre aufgenommen worden: die wahren Cabus, Wolinskis, Charbs etc. konnten doch nicht einfach umgebracht werden, das sah ihnen ganz und gar nicht ähnlich. Und wenn sie von Kugeln durchsiebt wurden, dann war das doch nur ein Witz à la Charlie, ein schlechter Scherz … sie würden sich erheben und wieder herumalbern.
Nach einigen Stunden mussten wir uns jedoch eingestehen, dass sie wirklich getötet wurden und dass die Terroristen ihr Ziel erreicht hatten. Genauer gesagt, dass die Terroristen sich Zugang zu unserem Haus verschafft hatten und in unseren Herzen das zerstört haben, was für uns am kostbarsten ist.
Wirklich am kostbarsten? Denn woher kommen diese unsere Gefühle, die wir Charlie Hebdo doch nur mehr sehr unregelmäßig lesen? In Wahrheit brauchen wir diese Zeitschrift nicht zu lesen, denn ihre Karikaturen haben uns unser ganzes Leben lang begleitet, ihr beißender Humor war Teil unserer DNA.
Das war, als hätten die dummen und boshaften Islamisten die integersten Kinder des Mai 68 ermordet, als diese 76 und 80 Jahre alt waren! Andere Akteure des schönen Monat Mai waren in die Schuhe der Macht oder des Geldes geschlüpft – nicht sie. Sie blieben rein, absolut unkorrumpierbar, immer am Rande der Pleite, doch dabei stets lustig. Ein Freund schreibt mir: „Das bringt mich zum Weinen, das ist der Horror. Ich kann mir diese Freunde, diese Zeichner, diese Journalisten nicht vorstellen, wie sie dort sitzen und wie Kinder lachen, und diese Monster, die mit ihren Kalaschnikows hereinkommen.“
Frech und respektlos
Kinder, wie wahr! Wenn sie nur intelligent und politisch korrekt gewesen wären, hätte man ihnen zweifellos gehuldigt. Aber etwas Besonderes und Unfassbares hat sich in uns erhoben, als wir von ihrem Tod erfuhren, so als ob die Mörder uns getötet hätten oder das, was wir nicht wagten, mit aller Konsequenz bis zum Ende zu sein, was jedoch sie waren: frech, respektlos sich dabei nie wichtig nehmend, ungestüm mit aller Kraft, die „Fresser“ von Priestern, Rabbinern und Imamen, stets mutig auch um den Preis einer Gefahr für ihr eigenes Leben. Und wir wurden überwältigt von Wut gegen diesen kriminellen Akt und von Trauer. Wir spürten Bedrückung und den bitteren Geschmack der Niederlage.
Am selben Abend, während der ersten großen Zusammenkunft in Paris, wurde klar, dass etwas Unerhörtes erwacht war, so als hätte unser eigenes Gefühl ein unergründliches Echo hervorgerufen. Und so kommt es, dass zu einem gegebenen Moment in der Geschichte ein Ereignis in einen bestimmten Kontext hereinplatzt und seine Schwingung in einer Gesellschaft, ja in der ganzen Welt ausbreitet.
Der Einfallsreichtum anonymer Hände ist ein Zeichen dafür: „Gestorben im Kampf“, „NOT AFRAID“ in gigantischen leuchtenden Buchstaben, erhobene Bleistifte, Hunderte Karikaturen und improvisierte Botschaften –„Sie wollten uns in die Knie zwingen, aber sie haben uns nur standhafter gemacht“. Und besonders der Satz aus drei Worten, der sich innerhalb nur weniger Stunden wie ein Virus ausbreitete und in allen Sprachen des Planeten dekliniert werden sollte: „Je suis Charlie.“
Augenblicklich hörte dieser Name auf, nur der einer französischen satirischen Zeitschrift zu sein. „Charlie, schreibt die libanesische Tageszeitung L’Orient-Le Jour, das ist jedes Opfer von Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Christianophobie, Homophobie […]. Das ist Raif, der in Saudi-Arabien ausgepeitscht wurde, Reyhaneh, die im Iran gehängt wurde, Malala in Pakistan, Michael, der in den USA getötet wurde – es spielt keine Rolle. Charlie, das sind diejenigen, die getötet wurden, die noch getötet werden, damit jeder auf dem Planeten weiß, dass man frei denken und sich ausdrücken kann. […] Jeder ist Charlie oder wird es eines Tages sein.“
Das Land des Laizismus
Das tödliche antisemitische Attentat in dem jüdischen Supermarkt Hyper Cacher in Paris genau wie der Mord an drei Polizisten – einem Biofranzosen, einem Muslim sowie einem Schwarzen, die von derselben Islamistengang begangen wurden, haben eine Welle der Solidarität und des Mitgefühls ausgelöst, die damit endete, dass auch Juden und Polizisten zu „Charlie“ wurden.
All das führte zu einer historischen Kundgebung am 11. Januar – rund 4 Millionen Teilnehmer in ganz Frankreich, eine nie da gewesene Anzahl. Dank der Barbaren fühlten sich die Franzosen zum ersten Mal seit Langem als ein Volk und entdeckten dabei, dass sie, sowohl für sich selbst als auch für den Rest der Welt, das Vaterland der Menschenrechte sind, von Voltaire, der Freiheit, der Brüderlichkeit, des Laizismus.
Eine Republik, in einem Wort: das Land Charlies. Frankreichs politisch Verantwortliche (mit Ausnahme von Marine Le Pen) marschieren Seite an Seite, ausländische Staatschefs kamen, um sich zu verneigen, Polizisten wurden auf der ganzen Strecke bejubelt, Kirchenglocken läuteten, während in den Moscheen für den Frieden gebetet und ein Gottesdienst in der Großen Synagoge von Paris zum Gedenken an die 17 Opfer im Fernsehen übertragen wurde.
Zur selben Zeit fanden Solidaritätskundgebungen in Europa und den Vereinigten Staaten statt, aber auch in Gaza, Istanbul, Sydney, Bujumbura oder Ulan-Bator.
„Gottesdienste??? Die Marseillaise??? Für uns???“, fragt auf einer Karikatur ein Mitglied der Mannschaft von Charlie Hebdo. Und ein anderer antwortete niedergeschlagen: „Es ist hart, von Dummköpfen geliebt zu werden …“
Der nette Islam der Mehrheit
Diese unglaubliche Einstimmigkeit löste schnell Kritik aus, besonders in den sozialen Netzwerken. Einige Muslime schrieben, dass das tödliche Attentat gegen die Journalisten von Charlie Hebdo, die „den Propheten beleidigt“ hatten, gut gemacht war, um ihnen eins auf die Fresse zu geben“. Auf den Pariser Märkten haben viele Händler gut sichtbar „Je suis Charlie“-Plakate angebracht, andere hingegen, von den ausländischen Fernsehsendern befragt, ließen sich nicht lange bitten, ihre Gedanken mitzuteilen, in dem Wissen, dass „das französische Volk“ auf „die Muslime“ wütend war und dass nur Marine Le Pen, so sie an die Macht kommt, diese Leute „nach Hause“ zurückschicken werde.
Diese muslimischen kommunitaristischen Strömungen auf der einen, islamophobe und xenophobe Strömungen auf der anderen Seite bearbeiten seit Langem die Gesellschaft und nehmen jeden Tag in Frankreich wie in Europa zu: die Pegida-Bewegung in Deutschland, die Neonazi-Partei Goldene Morgenröte in Griechenland, die Schwedendemokraten in Schweden, die Lega Nord in Italien, die „Partei für die Freiheit“ in den Niederlanden …Im Augenblick hat die außergewöhnliche Mobilisierung des 11. Januar all diese Rassismen zum Schweigen gebracht – sogar Marine Le Pen.
Aber was wird morgen passieren? Israels Ministerpräsident Netanjahu forderte Frankreichs Juden auf, sich in Israel niederzulassen. Das löste unterschiedliche Reaktionen aus. Der Oberrabbiner Frankreichs, Haïm Korsia, erinnerte daran, dass die Juden in diesem Land seit 2000 Jahren präsent seien – was bedeutet, weit bevor Clovis, der erste König Frankreichs (im Jahr 481) die Idee hatte, sich taufen zu lassen.
Im Gottesdienst in der großen Synagoge sagte er: „Warum ist so viel Leid nötig, damit wir endlich zusammenfinden können?“ Ähnliche Fragen stellt sich die muslimische Gemeinschaft. An sie wurde appelliert, alle Frustrationen wegen wirtschaftlicher Benachteiligung, aber auch Verletzungen aufgrund des Algerienkrieges zu überwinden. Der muslimische Philosoph Abdennour Bidar betonte in der Huffington Post, dass der Umstand, „Das sind nicht wir“ oder „Nicht in unserem Namen“ zu sagen und zwischen dem bösen Islam der Dschihadisten und dem netten Islam der Mehrheit der treuen Pazifisten zu unterscheiden, nicht mehr ausreiche.
Die Wurzeln des Übels
An die muslimische Welt wandte er sich mit den Worten: „Die Wurzeln dieses Übels sind in dir selbst […], und aus deinem kranken Bauch werden künftig genauso viele neue Monster kriechen und das so lange, wie du dich weigerst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.“
Und diese Wahrheit ist unter anderem das Unvermögen, dauerhaft eine Demokratie zu errichten, die chronische Schwierigkeit, die Situation der Frauen zu verbessern und vor allem die Unfähigkeit, politische Macht und religiöse Autorität voneinander zu trennen.
Heute stellt sich die Frage, ob die Dynamik des 11. Januar mächtig genug sein wird, um – übersetzt in Handlungen und eine Politik mit langem Atem – die „Gemeinschaften“ dazu zu bringen, sich für eine Integration zu entscheiden und sich mit dieser Republik zu identifizieren, die sie als vollwertige Bürger betrachtet.
Die vier Tage, die Frankreich verändert haben – werden sie endlich einen „französischen Frühling“ herbeiführen, oder wird diese Gelegenheit endgültig vertan werden? Ein wunderbares Armdrücken stellt in Frankreich – und vielleicht in der Welt – die „Ich bin Charlie“ den „Ich bin nicht Charlie“ gegenüber. Ungeachtet dieser trivialen Formulierung droht diese Konfrontation unsere Zukunft zu gestalten.
Aus dem Französischen: Barbara Oertel und Marion Bergermann
13 Jan 2015
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