taz.de -- Risse in Atomreaktoren: Belgien warnt den Rest der Welt

Die Schäden in den AKWs von Belgien sind größer als bisher bekannt. Die Atomaufsicht fürchtet ein „Problem für den ganzen Nuklearsektor“.
Bild: Risse im Druckbehälter des Reaktors: AKW im belgischen Tihange.

BERLIN taz | In den Reaktordruckbehältern der beiden belgischen Atomkraftwerke Doel 3 und Tihange 2 gibt es deutlich mehr Risse, als bisher bekannt war. Eine neue Analyse habe ergeben, dass sich in den stählernen Behältern, die das Herzstück eines Atomreaktors bilden, nicht 10.000, sondern mehr als 16.000 feine Risse befinden, gab der Chef der staatlichen Atomaufsicht FANC, Jan Bens, am Freitag bekannt.

Gegenüber dem öffentlichen belgischen Fernsehsender VRT äußerte Bens zudem eine eindringliche Warnung an andere Länder. „Das ist möglicherweise ein weltweites Problem für den ganzen Nuklearsektor“, sagte er. „Wir haben unsere internationalen Kollegen bereits informiert und beraten.“ Das sehen die beiden Wissenschaftler, die die neue Untersuchung durchführten, genauso. „Ich wäre tatsächlich verwundert, wenn das nicht auch woanders auftritt“, sagte Walter Bogaerts von der Universität Leuven. „Ich befürchte, die Korrosionsaspekte wurden unterschätzt.“

Die ersten Risse in den Reaktordruckbehältern der beiden belgischen Reaktoren wurden im Sommer 2012 entdeckt. Nach einer Untersuchung gingen diese zunächst wieder ans Netz; nach neuen Materialtests ließ die Atomaufsicht sie im Juli 2014 erneut abschalten. Bisher wurden die Risse auf Wasserstoffeinschlüsse bei der Herstellung des Stahls zurückgeführt. Die jüngsten Aussagen deuten nun aber eher auf eine Materialermüdung hin. Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital fordert darum, sämtliche 439 Reaktoren weltweit genau zu überprüfen: „Es ist dringend notwendig, die Risse im Metall ernster zu nehmen als bisher.“

Das Bundesumweltministerium, das für die Atomaufsicht in Deutschland zuständig ist, hat noch nicht über mögliche Konsequenzen aus der aktuellen Warnung aus Belgien entschieden. „Dem Bundesumweltministerium liegen derzeit noch keine eigenen Erkenntnisse über die neue Bewertung des Leiters der belgischen Atomaufsicht zu den beiden Kernkraftwerken Doel 3 und Tihange 2 vor“, sagte Ministeriumssprecher Michael Schroeren der taz. „Wir werden uns unverzüglich mit der belgischen Atomaufsicht in Verbindung setzen und mögliche neue Erkenntnisse auf Übertragbarkeit prüfen.“

Ob die beiden betroffenen belgischen Reaktoren jemals wieder ans Netz gehen, ist derzeit offen. Insgesamt gibt es in Belgien sieben Atomreaktoren an zwei Standorten, die bis 2025 in Betrieb bleiben sollen. Am 15. März wollen Atomkraftgegner in Tihange für einen schnelleren Ausstieg demonstrieren. Auch aus Nordrhein-Westfalen sind Busse angekündigt.

17 Feb 2015

AUTOREN

Malte Kreutzfeldt

TAGS

Umweltministerium
Greenpeace
Belgien
Tihange
Atomkraftwerk
Belgien
Schwerpunkt Atomkraft
Atomkraftwerk
Schwerpunkt Atomkraft
Ostsee
Atomausstieg
Schwerpunkt Atomkraft
Atom

ARTIKEL ZUM THEMA

Feuer im belgischen Reaktor Tihange: Atomkraft wieder brandaktuell

Der Brand im AKW habe „keine Folgen“, so die Betreiberfirma – und jubelt über die Erlaubnis, alte Meiler wieder hochzufahren.

Belgien fährt umstrittenen Reaktor hoch: „Russisches Roulette“ an der Grenze

Haarrisse? Kein Problem. Der Reaktor Tihange 2 nahe der deutschen Grenze ist nach Angaben des Betreibers vollkommen sicher und wird wieder hochgefahren.

Risse an Reaktoren in Belgien: Keine Infos über grenznahe AKWs

In Kraftwerken in Belgien und der Schweiz gab es Zwischenfälle. Die Regierung weiß wenig über mögliche Schäden an Reaktordruckbehältern.

Briten stinksauer auf Österreich: Atomkrach in der EU

Österreich will gegen die Beihilfen für die Erweiterung eines britischen AKW klagen. Nun schwingen die Briten die diplomatische Keule.

Atommüll-Endlager in Dänemark: 99.700 Jahre runtergerechnet

Kopenhagen will ein oberflächennahes Endlager bauen, das für die nächsten 300 Jahre geeignet ist. Das reicht nicht aus, sagen Kritiker.

Stilllegung des AKW Biblis: Maulkorb gelockert

Ein wichtiger Zeuge darf nun doch im Untersuchungsausschuss aussagen. Er warnte schon früh vor rechtlichen Risiken.

Abgabe auf Kernbrennstäbe: Klatsche für AKW-Betreiber

Der EuGH-Generalanwalt hat keine Bedenken gegen die Brennelementesteuer. Damit sinken die Chancen auf Erstattung – und die Aktienkurse.

Atomkraft beim Nachbarn: Belgien bibbert vor Black-out

Eigentlich hat Belgien 2003 den Atomausstieg beschlossen. Die Reaktoren liefen weiter. Jetzt fehlt wegen Störfällen die Hälfte des AKW-Stroms.