taz.de -- Kommentar Genozid an Armeniern: 100 Jahre Völkermord

Das Eingeständnis deutscher Beteiligung am Völkermord 1915 wiegt schwer. Es hilft der Zivilgesellschaft in der Türkei und in Armenien.
Bild: Schon 2014 erinnerten Menschen aus der Türkei und Armenien gemeinsam an das Verbrechen.

Nach langen Auseinandersetzungen wird der deutsche Bundestag am Freitag das Verbrechen des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord benennen. Deutschland hat sich damit wesentlich schwerer getan als andere Nationen, was vor allem zwei Gründe hat: Das Deutsche Kaiserreich war im Ersten Weltkrieg der engste Verbündete des Osmanischen Reichs.

Der Völkermord an den Armeniern fand nicht nur unter den Augen deutscher Militärs und Diplomaten statt, wichtige deutsche Militärs waren selbst darin verwickelt. Das Bekenntnis zum Völkermord ist damit auch ein Bekenntnis eigener Schuld.

Der zweite Grund sind die Beziehungen zur Türkei. Die Bundesregierung weiß natürlich, dass das Eingeständnis Deutschlands, zumindest mittelbar in einen Völkermord verstrickt gewesen zu sein, für Ankara schwerer wiegt, als wenn Parlamente der damaligen Kriegsgegner wie Frankreich, Russland oder England von Völkermord sprechen. Diese haben bereits unmittelbar nach Kriegsende darauf gedrängt, dass die Verantwortlichen für den Völkermord vor Gericht gestellt werden.

Mit dem deutschen Bekenntnis wird es der türkischen Regierung umso schwerer fallen, ihre Position, nach der die damaligen Ereignisse nichts mit einem Völkermord zu tun hatten, weiter durchzuhalten. Man wird in Ankara, sowohl in der Regierung als auch in weiten Teilen der parlamentarischen Opposition, das Gefühl haben, dass Deutschland ihnen in den Rücken gefallen ist. Das wird zu scharfen Protesten führen, eventuell wird der türkische Botschafter in Berlin, wie bereits in Wien geschehen, nach Ankara zurückgerufen werden. Doch das sind Rückzugsgefechte.

Nicht Oberlehrer sein

Denn tatsächlich hat sich in den letzten zehn Jahren auch in der Türkei viel bewegt. Als der Deutsche Bundestag im Jahr 2005 bereits eine Resolution zum Gedenken an den Genozid verabschiedete, wurde der Begriff Völkermord mit dem Argument vermieden, man wolle eine Debatte innerhalb der Türkei nicht dadurch erschweren, dass Deutschland sich als Oberlehrer aufspielt. Dieses Argument hatte Gewicht, weil die Diskussion in der Türkei damals ganz am Anfang stand. Heute ist sowohl an etlichen Universitäten, in öffentlichen Debatten und auch auf den Büchertischen das Tabu längst gebrochen.

Deshalb wäre es jetzt nahezu ein Verrat an der türkischen Zivilgesellschaft gewesen, wenn der Bundestag erneut aus Angst vor Konflikten mit der türkischen Regierung einem Bekenntnis zum Völkermord ausgewichen wäre. Es ist deshalb Bundespräsident Gauck, den Kirchen und vielen anderen zu danken, dass auch die beiden Regierungsfraktionen im letzten Moment noch dazu gedrängt werden konnten, gemeinsam mit der Opposition Klartext zu reden.

Allerdings darf es jetzt nicht beim Lippenbekenntnis bleiben. Schon vor zehn Jahren hatte der Bundestag selbstverpflichtend davon gesprochen, sich für den Prozess der Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien einzusetzen. Passiert ist in der Zwischenzeit leider nicht viel. Und das muss sich jetzt ändern.

Zivilgesellschaftliche Annäherung

Auch wenn zwischen den Regierungen aktuell ebenfalls nicht viel passiert: Die türkische und die armenische Zivilgesellschaft haben längst begonnen, die Annäherung mit dem Ziel der Aussöhnung zwischen den Gesellschaften zu betreiben. Diese Bemühungen verdienen allergrößte Anerkennung und darüber hinaus materielle Unterstützung. Hier gibt es ein weites Feld, auf dem deutsche Institutionen und die deutsche Zivilgesellschaft sich engagieren könnten.

Doch auch der Dialog mit der türkischen Regierung ist wichtig. Es ist gut, dass Kanzlerin Merkel bereits im Vorfeld der Bundestagsentscheidung mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu telefoniert hat, um die deutschen Motive deutlicher zu machen. Die deutsche Entscheidung ist keine Verurteilung der Türkei, sondern in allererster Linie ein Anerkenntnis eigener Mitschuld.

Wenn die erste Empörung in Ankara sich gelegt hat, könnte das sogar ein Signal sein, welches es der türkischen Regierung leichter macht, sich aus ihrer jetzigen Sackgasse herauszumanövrieren. Deutsche Diplomatie hat Erfahrung mit Wiedergutmachungsfragen und der Aufarbeitung historischer Schuld. Es wäre hervorragend, wenn man der Türkei damit in aller gebotenen Vorsicht helfen könnte.

24 Apr 2015

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Jürgen Gottschlich

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