taz.de -- Kritik am Impfprogramm: Hilflose Effekthascherei
Viele Mängel bei der Impfstoffbeschaffung sind systembedingt. Mit Lieferketten und Produktionsstandorten kennt sich die Privatwirtschaft besser aus.
Es muss doch jemanden geben, der an dem derzeitigen Impfchaos Schuld trägt. Die Bundesregierung. Die Länder. Die EU-Kommission. Die Konzerne. Patente. Kapitalismus. Jens Spahn. Die Medien. Doch vermutlich kann es in Sachen Impfstoffe nicht wesentlich schneller gehen – weil das System, in dem wir leben, an seine Grenzen kommt. Daran ändert auch der Impfgipfel von Bund und Ländern nichts.
Möglichst viel EU, um keinen „[1][Impfnationalismus]“ zuzulassen? Heißt aber auch wenig effektive Entscheidungswege. Dass Israel, Großbritannien und selbst die bis vor Kurzem noch dilettantisch regierten USA schneller impfen, ist die logische Konsequenz und ein Ergebnis einer anderen Widersprüchlichkeit. Zumindest in Deutschland, bis vor kurzem EU-Ratspräsident, wollte man eine EU, die gute Konditionen aushandelt und die Pharmakonzerne in Haftung nimmt, falls die Vakzine Schäden hervorrufen, und bitte schön nicht zu viel Profit für „die Industrie“. Also waren andere schneller beim Bestellen.
Natürlich ist es richtig, aufzuzeigen, wo es ein Versagen bei der Impfstoffbeschaffung gegeben hat. Aber vieles ist systembedingt. Hektische Rufe nach „[2][Notimpfstoffwirtschaft]“ (Robert Habeck) oder staatlichem Produktionszwang (Markus Söder) sind hilflose Effekthascherei. Der Ruf nach einer starken Hand klingt toll in konservativen Ohren, wo man auf taffe Macher steht, und super in linken Ohren, wo man staatliche Eingriffe in die Pharmaindustrie immer gut findet.
Das Problem ist aber: Das Wissen um globale Lieferketten und geeignete Produktionsstandorte liegt in der Privatwirtschaft. Das lässt sich nicht von der grünen Parteizentrale oder der Bayerischen Staatskanzlei aus zurückdelegieren. Bis Ministerien wissen, wie Impfstoffe am besten produziert werden, ist der Südpol eisfrei. Besser wäre ein anderer Weg: Pharmakonzernen sehr hohe Profite für schnellere Lieferungen anbieten, verbunden mit der Pflicht, Lizenzen an andere Unternehmen zu vergeben, die mit einspringen können. Nicht schön. Aber ein Ergebnis unseres Systems.
1 Feb 2021
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Erste Ergebnisse aus Israel zeigen, dass bei Corona-Infizierten, die zuvor geimpft wurden, weniger Viren nachweisbar sind.
In Pune werden Fläschchen gefüllt – Impfstoff made in India. In Mumbai steht eine riesige Impfstation. Doch viele Inder haben Angst vor dem Vakzin.
Die Mehrheit der Menschen muss auf eine Impfung weiter warten. Eine Initiative, die die Patentrechte aufheben wollte, ist am Donnerstag gescheitert.
Lange galt Japans Corona-Abwehr als besonders effektiv. Jetzt wird der Lockdown verlängert, Impfungen starten frühestens Ende Februar.
Ein Fachmagazin bescheinigt Sputnik V eine Wirksamkeit von über 90 Prozent. Die Opposition ist enttäuscht vom Impfgipfel. Das RKI meldet 6.114 Neuinfektionen.
Um die schleppende Impfkampagne zu beschleunigen, hat die EU neue Partner gefunden: Südamerikanische Drogenkartelle.
Das Gesundheitsministerium schätzt, dass ab dem zweiten Quartal 2021 viel mehr Impfstoff bereit liegt. Firmen, Bund und Länder beraten zur Impfstrategie.
Dennoch ist Gesundheitsminister Jens Spahn guter Dinge und wirbt um Vertrauen. Der Impfgipfel dürfte nur wenig Fortschritte bringen.