taz.de -- Drogen in der Psychotherapie: Die Persönlichkeit ins Fließen bringen

Können LSD, MDMA und Ketamin bei psychischen Krankheiten helfen? Laut aktuellem Forschungsstand: ja. Noch ist die Behandlung illegal.
Bild: 2016 wurden erstmals Gehirne unter LSD-Einfluss gescannt

Zwei Jahre lang musste Yehiel De-Nur die Leichen aus den Gaskammern von Auschwitz holen. Der jüdische Schriftsteller überlebte den Holocaust, war aber höchst traumatisiert. Bei seiner Aussage im Eichmann-Prozess brach er vor laufender Kamera zusammen und musste weggetragen werden. Schließlich überredete ihn seine Frau zu einer besonderen Therapie.

1976 reiste er in die Niederlande, zu Jan Bastiaans, Psychiater an der Staatlichen Universität Leiden. Der war darauf spezialisiert, Patient*innen mit sogenanntem KZ-Syndrom unter Zuhilfenahme von LSD zu behandeln. In einem erschütternden Buch beschreibt De-Nur diese Erfahrung: „Vielleicht wäre es möglich, das LSD-Fenster zu nutzen, um zu erkennen, was hinter dem Vorhang lag, der mein geistiges Auge verdeckte.“

Forscher*innen und Therapeut*innen in Europa und den USA begannen schon Mitte des 20. Jahrhunderts damit, die psychedelische Wirkung von LSD und ähnlichen Drogen wie Psilocybin, dem Wirkstoff von Magic Mushrooms, zu erforschen und medizinisch nutzbar zu machen. Man setzte die damals als „Phantastika“, heute meist als Halluzinogene oder Psychedelika bezeichneten Substanzen in der Behandlung von diversen psychischen Krankheiten ein.

Wenngleich die Studien heutigen Wissenschaftsstandards nicht immer entsprechen, ergaben sie eine teils erstaunliche Wirksamkeit. So analysierten norwegische Forscher sechs Studien von 1966 bis 1970 mit insgesamt 536 alkoholkranken Proband*innen. Sie fanden heraus, dass eine einmalige LSD-Verabreichung bis zu einem halben Jahr lang effektiv gegen die Sucht half.

De-Nur war einer der letzten Patienten, die sich legal mit LSD behandeln lassen konnten. Im Zuge der 60er Jahre war es zur Leitdroge der Hippie-Bewegung geworden, wurde massenhaft konsumiert und geriet schnell in Verruf. Die Substanz wurde 1966 in den USA komplett verboten, 1971 auch in Deutschland und bald darauf praktisch weltweit. Psilocybin, MDMA und weitere psychoaktive Drogen folgten, sodass auch ihre Erforschung und Nutzung als therapeutisches Mittel eingestellt werden musste.

Seit gut zehn Jahren aber ermöglichen Sondergenehmigungen neue, aufsehenerregende Studien. Erste Ergebnisse bestätigen frühere Erfolge in der Behandlung von Depression, Angst, Trauma, Zwang und Sucht. Auch therapieresistenten und sterbenskranken Patient*innen können die Substanzen helfen.

2011 setzten Forscher*innen MDMA-gestützte Therapie erfolgreich bei therapieresistenter posttraumatischer Belastungsstörung ein: Bei 83 Prozent der 20 Teilnehmer*innen waren die Symptome verschwunden, selbst mehr als drei Jahre später war der lindernde Effekt noch deutlich. Ähnlich gut scheinen Therapien mit Psilocybin und Ketamin gegen Depressionen zu wirken.

Inzwischen forschen weltweit gut 30 Universitäten. Auch private Stiftungen und NGOs spielen dabei eine wichtige Rolle: MAPS und Heffter in den USA, Beckley in Großbritannien und auch das 2016 in Berlin gegründete MIND. Sie kümmern sich um die Finanzierung und setzen sich für öffentliche Anerkennung ein – mit einigem Erfolg.

Beim Weltwirtschaftsforum in Davos erklärte der englische Wissenschaftler Robin Carhart-Harris vom Imperial College London vor Kurzem die Relevanz substanzgestützer Therapie. In den USA hat die oberste Arzneimittelbehörde (FDA) der Erforschung von Psilocybin und MDMA sogar Sonderstatus verliehen und fördert sie nun eigens.

Was aber macht diese Substanzen so besonders? De-Nur schreibt über seine LSD-Erfahrung: „Es war, als sei eine lange versiegelte Pforte in mir aufgebrochen, und eine Flut des Schreckens brach über mich herein, genau wie damals.“ Die Droge half ihm, sich wieder an das verdrängte Grauen zu erinnern, davon überhaupt erzählen und es so einer therapeutischen Bearbeitung zugänglich machen zu können. Zwar ist das prinzipiell auch in einer substanzfreien Psychotherapie möglich, aber nicht immer so schnell und tiefgreifend.

Ähnlich sieht es im Vergleich mit zugelassenen Psychopharmaka aus: „Diese psychedelischen Substanzen scheinen viel schneller und sehr intensiv zu wirken“, sagt Isabella Heuser-Collier, Klinikdirektorin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Zudem hält die Wirkung von Einzeldosen oft weit über den eigentlichen Rausch hinaus an.

Die genauen Wirkmechanismen sind zwar noch nicht gut erforscht, doch zeigen Hirnscans von LSD-Proband*innen eine vermehrte Aktivität und Vernetzung sonst nicht interagierender Hirnareale (siehe Grafik). Das mag erklären, weshalb diese Drogen gewissermaßen die Persönlichkeit ins Fließen bringen. „Subjektiv wirken sie maximal öffnend, bringen Emotionales, Assoziatives und Unbewusstes hervor und ermöglichen einen hohen Grad an Selbstreflexion“, erklärt MIND-Direktor Henrik Jungaberle. „Das geht bis hin zu tiefgreifenden, Ich-auflösenden und kathartischen Erlebnissen, die eine veränderte Perspektive auf sich selbst und andere ermöglichen.“

Kein Wunder, dass Psychedelika häufig stark mystifiziert und als Allheilmittel fetischisiert werden. Dabei gelten sie in der heutigen Forschung eher als Verstärker von ohnehin psychisch Vorhandenem, lediglich als Katalysatoren von Veränderungen. Seriöse Therapeut*innen sehen daher professionelle Begleitung und anschließende Integration der Erfahrung als wesentlich.

Während De-Nur in die Abgründe seiner Erinnerungen an Auschwitz abtaucht, packt ihn eine so furchtbare Panik, dass sein Therapeut eingreift. „Hätte ich Sie vorhin nicht berührt, dann hätte ich Sie vielleicht nie mehr zurückbringen können. Sie wären dort geblieben, verirrt im Vorhof der Hölle“, zitiert ihn De-Nur. Ein Beispiel, dass die Furcht, auf einer Droge „hängen zu bleiben“, durchaus nicht unbegründet ist. Die plötzliche Aufdeckung von Verdrängtem kann überfordern – ein Kritikpunkt vieler Psycholog*innen.

Im therapeutischen Setting gilt ein „Horrortrip“, also eine Konfrontation mit schmerzhaften Inhalten, aber eher als wertvolle Herausforderung, solange er adäquat betreut und verarbeitet wird. Unter professionellen Bedingungen und bei richtiger Dosierung sind die Drogen zudem relativ sicher. Es treten zwar gelegentlich Unverträglichkeiten auf, aber klassische Psychedelika wie LSD oder Psilocybin sind ungiftig und führen zu keinerlei körperlicher Abhängigkeit.

Gefahren beim Substanzeinsatz gibt es dennoch. Psychische Sucht beispielsweise ist nicht ausgeschlossen, vor allem bei MDMA und Ketamin. Zudem können nach einem Trip ungewollte Wahrnehmungsveränderungen bleiben. Über dieses als HPPD oder Flashback bekannte Phänomen weiß man bisher wenig, es ist nicht richtig behandelbar.

Schlimmstenfalls kann ein Trip auch eine temporäre oder gar chronische Psychose bis hin zur Schizophrenie auslösen. Etwa ein Prozent aller Menschen sind genetisch dafür veranlagt, das Risiko kann nur mittels biografischer Anamnese abgeschätzt werden. Aus kontrollierten Studien sind keine ernsthaften Zwischenfälle bekannt – auch weil Risikopatient*innen bereits im Vorfeld ausgesiebt werden. Legalisierungsbefürworter*innen argumentieren zudem damit, dass Alkohol viel mehr Leid verursache, und psychische Krankheiten erst recht: Allein in den USA begehen täglich etwa zwanzig traumatisierte Kriegsveteranen Suizid.

Ein kontrolliertes Setting ist bei der Behandlung allerdings unerlässlich, wie der Vergleich mit illegalen Untergrundtherapien zeigt. Gelegentlich gibt es in diesem Zusammenhang medial sehr präsente Nachrichten über Missbrauch und tödliche Unfälle. Auch in regulären Psychotherapien besteht ein Machtgefälle, weshalb dort zum Schutz beider Seiten privater oder gar sexueller Kontakt ausgeschlossen wird. Bei zusätzlicher Substanzgabe sind Verletzlichkeit und Missbrauchsgefahr noch deutlich stärker, deshalb sind bei professionell betreuten Trips meist ein Mann und eine Frau anwesend.

„Dieses Feld zieht aktuell auch ungefestigte Therapeutenpersönlichkeiten, Machtgierige und Narzissten an, vielleicht weil sie mit einer kleinen Substanzmenge so viel bewirken können und glauben, für ein paar Stunden Gott zu sein“, sagt Jungaberle. Eine Legalisierung substanzgestützter Therapien sieht er als Chance: „Vielleicht wäre der Markt für zweifelhafte Alternativheiler und Scharlatane dann nicht so groß.“

Gleichzeitig lässt sich die strikte Trennung von Wissenschaft und Mystik nicht immer aufrechterhalten. Wie viele vor und nach ihm hatte De-Nur unter LSD-Einfluss spirituelle Einsichten. Eine Art heiliges Licht beschreibend, berichtet er: „Ich sehe meine Seele, die ihr Gesicht zur Quelle dieses Lichtes kehrt. Und alle meine Schuldigkeit ist abbezahlt, alle und jede.“ Immer wieder entdecken Forscher*innen einen Zusammenhang zwischen der Stärke der mystischen Erfahrung und dem lindernden Effekt von Psychedelika.

Vielleicht liegt gerade in der Nichtrationalität und Unberechenbarkeit ein wesentliches Potenzial. Ist diese Provokation der Grund, weshalb Psychedelika einerseits zutiefst faszinieren und andererseits heftige Vorbehalte auslösen?

Auch für Wissenschaftler*innen und Therapeut*innen ist es zuweilen schwer, die Thematik rational einzuschätzen. „Man muss da mit einem gewissen Stigma kämpfen und deswegen auch besonders vorsichtig sein“, sagt Heuser-Collier. In Deutschland, das der internationalen Entwicklung bisher nur zögerlich folgt, mag dieses Stigma wegen des Menschenversuchserbes des Dritten Reichs besonders relevant sein. Zudem herrscht hier ein stark reguliertes Psychotherapiesystem, und viele Therapeut*innen stehen dem Substanzgebrauch prinzipiell skeptisch gegenüber.

Etwa die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV). “Wir sehen diese Versuche kritisch und ordnen sie als gefährlich ein, zudem die in der Diskussion befindlichen Stoffe eher den illegalen Drogen zuzuordnen sind“, sagt Sprecherin Ursula-Anne Ochel. Gerhard Gründer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) hält solche Vorbehalte für ideologisch und hat seine Meinung in den letzten Jahren selbst grundlegend geändert: “Ich war sehr kritisch, habe mich aber intensiv mit der Materie befasst und sage inzwischen ganz pragmatisch: Was hilft, muss akzeptiert werden.“

De-Nur beendete seine LSD-Behandlung übrigens früher als von seinem Therapeuten empfohlen. Er hatte Fortschritte gemacht: „Zum ersten Mal seit dreißig Jahren lege ich mich entspannt ins Bett.“ Aber während er zuvor nachts nicht schlafen konnte, quält ihn Auschwitz nun tagsüber. Zwar schafft er es irgendwann, darüber zu schreiben, „doch die Wörter ersticken. An Tränen des Zweifels.“

Seit 2018 wird auch an der psychiatrischen Fakultät Leiden, wo De-Nurs Therapeut Bastiaans arbeitete, wieder geforscht – über MDMA-gestützte Traumatherapie. Würde man De-Nur heute behandeln, fiele die Wahl vermutlich ebenfalls auf MDMA. Denn die Gefahr von Retraumatisierungen ist dabei im Vergleich zu LSD – nach aktuellem Kenntnisstand – geringer.

2 Feb 2019

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Andrew Müller

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