taz.de -- Theaterstück über obdachlose Frauen: Von der Straße auf die Bühne

In einem dokumentarischen Theaterstück über Wohnungslosigkeit berichten Betroffene über ihre Erfahrungen. Dabei geht es vor allem um Selbstbestimmung.
Bild: Szene aus dem Stück „Innere Häuser“

Vier Originalsitze der Deutschen Bahn haben es in die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch geschafft, denn Janina Berthold hatte sich als Bühnenbild ein Zugabteil gewünscht. „Die WhatsApp-Nachricht, dass du die Sitze gekriegt hast, habe ich mindestens zehn Mal gelesen“, erinnert sich Berthold und schaut zur Bühnenbildnerin Madalena Wallenstein de Castro. Die hat die gesamte Zuschauertribüne in die Verbannung geschickt, um Platz zu schaffen für weitere Bühnenbilder: ein Filmstudio, ein geräumiges Baumhaus mit Schaukel und das Büro des Frauen*salons mit angeschlossenem Museum der Obdachlosigkeit.

Wallenstein de Castro hat bewusst einen Bühnenraum geschaffen, der Darstellenden wie Publikum einen hohen Grad an Selbstbestimmung zugesteht. Die darstellenden Erfahrungsexpertinnen Janina Berthold, Kristina Maca, Manja Starke und Yoyo Pamminger (auf der Bühne vertreten durch Sarah Palarczyk) konnten konkrete Vorschläge machen, wie ihre eigene Biografie im Bühnenbild illustriert werden soll. Sie erzählen so ihre [1][Lebensgeschichte, die Phasen der Obdachlosigkeit umfasst], im selbst ausgesuchten Setting. Das Publikum wird mit Klapphockern und Sitzkissen ausgestattet und kann sich dann im Raum frei bewegen.

„Das kann jedem von euch genauso passieren!“, ruft Berthold ins Publikum, nachdem sie von ihrer Zwangsräumung in Stralsund im Jahr 2023 erzählt hat. Da sie das Deutschlandticket hatte, lebte sie wochenlang in Zügen. Nachts suchte sie sich Regionalzüge aus, die lange unterwegs waren, um im Zug so viel wie möglich zu schlafen.

Als man ihr das Handy im Zug gestohlen hatte, war auch ihr digitales Deutschlandticket weg. Sie strandete in der Bahnhofsmission in Kassel und musste sich ihre Obdachlosigkeit endgültig eingestehen. Zum Lichtblick wurde der Kontakt zur Wohnungslosenstiftung Anfang 2024. Über die bekam sie ein neues Handy – finanziert durch Spendengelder -, vernetzte sich und fand eine Wohnung über die Stiftung „Safe Housing for Women“.

Verbindung von Studium und Engangement

Linda Glanz, Regiestudentin an der Ernst Busch, arbeitet ehrenamtlich in der Notübernachtung und suchte schon lange einen Weg, um Engagement und Studium miteinander zu verknüpfen. Auf einer Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumen kam sie in Kontakt mit der 2021 als Initiative von unten gegründeten Wohnungslosenstiftung. Im Februar bot sie bei der Netzwerktagung der Stiftung in Augsburg einen Workshop an und lernte auf diesem Weg Madalena Wallenstein de Castro, Manja Starke und Yoyo Pamminger kennen. Damit waren das Thema Obdachlosigkeit von Flinta-Personen, die Bühnenbildnerin und die ersten Protagonistinnen ihrer Diplom-Inszenierung gesetzt.

Weitere Darstellerinnen suchte sie per Flyer, die sie auf den Mahnwachen verteilte. Glanz führte bis zu zehnstündige Interviews mit jeder Protagonistin und verdichtete sie zusammen mit der Dramaturgie-Studentin Marianna Wicha zu knappen Texten. Im Juni traf sich das ganze Team zwei Wochen lang zur gemeinsamen Stückentwicklung.

Berthold, Starke, Maca, Pamminger und die Schauspielerin Sarah Palarczyk wurden gefragt: Was wollt ihr anziehen? Was wollt ihr haben als Raum? Seid ihr mit der Textauswahl einverstanden? Und so ist „Innere Häuser – ein dokumentarisches Theaterstück über Wohnungslosigkeit und ein erträumtes Wohnprojekt“ eine Inszenierung mit einem großen Grad an Mitbestimmung, größer als in vielen anderen Theaterprojekten. Das macht die Darstellerinnen glücklich und stolz, wie sie gegenüber der taz betonen. Denn Selbstbestimmung ist für sie ein extrem hoher Wert.

Diskriminierung und Einsamkeit

„Wenn ich die genug Kraft habe, drehe ich einen Dokumentarfilm über die Notunterkunft in Köpenick“, sagt Kristina Maca. Auf der Bühne steht sie im Filmset, spielt sich selbst, beschreibt die Zustände in der Unterkunft und vor allem die Ignoranz in Bezug auf Trans-Menschen wie sie, die dort gezwungen werden, ihr Geschlecht zu entblößen, bevor ihnen erlaubt wird, die Frauen-Gruppendusche zu benutzen.

Manja Starke liest im Büro-Setting ihr Gedicht „Die Einsamkeit“: „Die Einsamkeit gehört zu jedem Leben // sie geht mit der Sehnsucht Hand in Hand // die Hoffnung besiegt beide“. Und erzählt dann von ihrem digitalen Frauen*salon. Ein erstes analoges Treffen wird in zwei Wochen in Essen stattfinden: Thema: „Wohnungslose Frauen – unsichtbar und ohne Lobby – Wege zur Sichtbarkeit und zur Vernetzung“.

Und dann kommt Bernadette La Hengst mit dem Chor der Statistik hereingaloppiert. Ein Riesentransparent mit dem gewaltigen Liedtext „Wir fordern“ fällt vom Schnürboden. La Hengst traktiert ihre rote Gitarre, dirigiert gleichzeitig den Chor, und der 24-zeilige Forderungskatalog füllt Strophe für Strophe den Raum: „Kein Mensch soll ohne Zuhause sein. Freie Ortsabwesenheit und mehr Gendergerechtigkeit. Hilfe schon vor der Zwangsräumung und Kontrolle bei der Eigenbedarfskündigung. Statt Einzelkampf mehr Empathie…“

Gelebte Utopie ist, dass sich im Publikum AktivistInnen, Ernst-Busch-Fans und Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, mischen. „Die waren das erste Mal in ihrem Leben im Theater“, erzählt Wallenstein de Castro über vier wohnungslose Frauen, die eine Abendvorstellung besucht haben. Möglich ist das nur durch organisatorischen Aufwand, denn, wer ein Bett für die Nacht haben will, muss normalerweise bis 18 Uhr in der Notunterkunft sein. Damit möglichst viele obdachlose Frauen sich „Innere Häuser“ ansehen können, gibt es auch eine Nachmittags-Vorstellung. Und der Eintritt ist in der HfS Ernst Busch immer frei

„Sprecht nicht über uns, sprecht mit uns“, sagt Janina Berthold in ihrem DB-Abteil. Der Chor der Statistik kommentiert: „Stärkt die Selbstorganisation. In jedem Ort ein Frauen*salon.“ Nach der Vorstellung lösen sich die Gespräche erst auf, als der Hochschul-Pförtner über Lautsprecher wiederholt zum Verlassen des Gebäudes auffordert.

Weitere Vorstellungen: 10./11. November um 19 Uhr und 9. November um 15 Uhr, HfS Ernst Busch, Zinnowitzer Str. 11, 10115 Berlin

9 Nov 2025

LINKS

[1] /Wohnungs--und-Obdachlosigkeit/!6032585

AUTOREN

Katja Kollmann

TAGS

Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Schauspiel
Theaterfestival
Wohnungsmarkt
Frauenhäuser
Obdachlosigkeit

ARTIKEL ZUM THEMA

Theaterfestival Monolog: Ein hauchzarter Handlungshorizont

Das Monolog-Festival im Berliner td wartet in angstbesetzten Zeiten mit einer Prise skeptischem Optimismus auf.

Wohnungs- und Obdachlosigkeit: Jung, weiblich, gefährdet

Wohnungslosigkeit trifft auch junge Menschen, darunter viele Frauen. Sie leben besonders gefährlich. Wohnungsmangel ist nur eine der Ursachen.

Obdachlose Frauen: Flucht vor Gewalt auf die Straße

Durch den Mangel an Wohnraum sind Frauen*häuser überbelegt. Für von Gewalt betroffene Flinta bedeutet das oft: Obdachlosigkeit oder Zurück zum Täter.

Obdachlosigkeit bei Frauen: Eine Art von Heimat

Der „Unterschlupf“ ist eine Zuflucht für die, die keine Zuflucht haben. Nun droht der Berliner Tagesstelle für wohnungslose Frauen die Schließung.